Ichigo-ichie: Von der Kunst, im Moment zu leben

Jeder Moment ist kostbar. Die japanische Lebenskunst des Ichigo-ichie hilft uns, einmalige Chancen zu ergreifen, indem wir die Einzigartigkeit jedes Augenblicks schätzen lernen und so ein Leben voll wunderbarer Erlebnisse erschaffen.

Frau steht in Sonnenlicht auf Wiese
Mit Ichigo-ichie den Moment genießen. Foto: Canva.com

Ichigo-ichie verändert den Blickwinkel

Es gibt einen Comicstrip der Peanuts, darin sehen wir Charlie Brown und Snoopy auf einem Bootssteg sitzen. Sie schauen auf einen See und unterhalten sich: „Eines Tages werden wir sterben, Snoopy“, sinniert Charlie Brown. „Ja das stimmt, Charlie, aber an allen anderen Tagen nicht“, antwortet ihm sein weiser Hund Snoopy. Letztendlich weiß niemand von uns, an welchem Tag er diese Welt verlassen wird – was ja auch gut ist –, aber jede:r von uns hat einen großen Einfluss darauf, wie er „alle anderen Tage“ verbringt, all jene wunderbaren Tage, an denen wir lebendig sind. Und ehe wir eintauchen in die faszinierende Welt des Ichigo-ichie, der japanischen Lebensphilosophie, im Moment zu leben, können wir die Worte des Meisters Ikkuyu auf uns wirken lassen:

„Bevor der Schüler sich dem Studium der heiligen Texte widmet und endlos die Sutren singt, sollte er lernen, die Liebesbriefe zu lesen, die Schnee, Wind und Regen ihm schicken.“
Ikkuyu

Genieße jeden Augenblick mit Ichigo-ichie

Ichigo-ichie setzt sich zusammen aus den Schriftzeichen für "eins" (ichi), "Zeit" (go) und "Treffen" (e) und wird übersetzt als „eine Zeit, ein Treffen“ – also eine Begegnung, die nur einmal im Leben stattfindet. Dahinter steckt eine komplexe Philosophie, die ihren Ursprung in der japanischen Teezeremonie hat und inzwischen auch fester Bestandteil des Zen-Buddhismus ist. Damit ist gemeint, dass jede Begegnung, jedes Erlebnis ein kostbarer Schatz ist, etwas, das sich nie wieder in gleicher Weise wiederholen wird. Lassen wir dieses eine Erlebnis verstreichen, ohne es zu bewusst wahrzunehmen, wird die Gelegenheit dafür für immer verloren sein. Die Beschäftigung mit den Elementen des Ichigo-ichie kann uns helfen, den Fuß vom Gas zu nehmen und uns darauf zu besinnen, dass jeder Morgen auf dieser Welt, jedes Zusammentreffen mit anderen Menschen, die Zeit mit unseren Lieben unendlich wertvoll ist und unsere volle Aufmerksamkeit verdient.

Ichigo-ichie hält uns im Hier und Jetzt

Menschen, die fähig sind, ihrem Leben dauerhaft einen Sinn zu geben, zeichnen sich meist durch zwei Wesenszüge aus: Sie sind sich ihrer Lebensaufgabe bewusst und in der Lage, den Augenblick zu genießen und zu akzeptieren, was auch immer geschieht. Deshalb betrachten sie, wie wir es auch bei den alten Einwohner:innen in Ogimi auf der Insel japanischen Okinawa beobachten können, jeden Moment als eine Chance: Ichigo-ichie. Von den vier Grundemotionen Wut, Traurigkeit, Angst und Freude ist nur Letztere mit der Gegenwart verknüpft. Freude ist die Heimat des Ichigo-ichie. Gerade weil wir wissen, dass etwas nur jetzt geschieht und nicht schon geschehen ist oder erst geschehen wird, können wir uns in der Freude darüber vollkommen dem Genuss eines einzigartigen Augenblicks hingeben. Im Zeitalter permanenter Zerstreuung, in einer Kultur des Sofort und der Oberflächlichkeit, in der vielen das Zuhören und das bewusste Erleben dessen, was gerade geschieht, schwerfällt, trägt dennoch jeder Einzelne von uns in seinem Inneren einen Schlüssel, um erneut die Türen der Aufmerksamkeit, des harmonischen Miteinanders und der Liebe zum Leben öffnen zu können. Und dieser Schlüssel heißt Ichigo-ichie.

Frau in Natur bei Sonnenuntergang
Ichigo-ichie heißt: Im Hier und Jetzt leben. Foto: Canva.com
aufgeschlagenes Buch - Foto: Canva.com

Buchtipp für mehr Ichigo-ichie

"Ichigo-ichie: Die japanische Kunst, den perfekten Moment zu nutzen“ von Héctor García (Kirai) & Francesc Miralles, Allegria Taschenbuch, ca. 10 Euro

Die zehn Prinzipien des Ichigo-ichie

  1. Schiebe gute Momente nicht hinaus – Jede

    Gelegenheit wird uns nur ein einziges Mal gewährt.

    Ergreifen wir sie nicht, ist sie für immer verloren. Das

    Leben ist eine Sache des „Jetzt oder nie“.

  2. Lebe, als würden die Dinge nur einmal in deinem

    Leben geschehen – Diesen Rat gab ein alter

    Teemeister vor einem halben Jahrtausend. Und er gilt

    heute noch genauso wie einst. Deshalb passen die

    Worte Ichigo-ichie gut zur Begrüßung oder zum

    Abschied von Menschen, die wir lieben, da sie uns die

    Einzigartigkeit und das Unwiederholbare unserer

    Begegnung bewusst machen.

  3. Verweile im Jetzt – Reisen in die Vergangenheit und

    in die Zukunft sind oftmals schmerzlich und fast

    immer unnötig. Was geschehen ist, ist geschehen.

    Und was geschehen wird, können wir nicht wissen.

    Aber hier und jetzt, in diesem Moment, sind alle

    Möglichkeiten der Welt offen.

  4. Tu etwas, das du noch nie getan hast – Wie Einstein

    sagte, kannst du, wenn du immer wieder das Gleiche

    tust, keine neuen Ergebnisse erwarten. Ein

    unvergesslicher Moment lässt sich gezielt

    hervorrufen, wenn wir uns dem, was geschieht,

    hingeben und zulassen, dass etwas Neues in uns

    erblüht.

  5. Praktiziere Zazen – Setz dich auf ein

    Meditationskissen oder einfach gerade auf einen Stuhl

    und betrachte für zehn Minuten das Wunder des

    Lebens.

  6. Übe mit allen fünf Sinnen Achtsamkeit – Trainiere die

    Kunst des Zuhörens, Schauens, Berührens,

    Schmeckens und Riechens, um in jedem Augenblick

    den ganzen Reichtum menschlicher Wahrnehmungen

    erfahren zu können.

  7. Schärfe deinen Blick für Zufälle – Wenn wir die

    Synchronizität bestimmter Geschehnisse erkennen,

    können wir auch die Zeichen, die das Schicksal uns

    sendet, besser deuten und unsere Wahrnehmung der

    unsichtbaren Fäden der Realität verbessern.

  8. Du kannst jede Begegnung zu einem Fest werden

    lassen – Warte nicht auf optimale Bedingungen – einen

    Urlaub, eine Reise, einen Geburtstag –, um etwas

    Außergewöhnliches zu erleben. Mit der richtigen

    Einstellung kann fast jeder Tag zu etwas

    Wunderbarem werden.

  9. Wenn dir das Vorhandene nicht gefällt, erschaffe dir

    etwas anderes – Wir alle besitzen die Fähigkeit, uns so

    oft wie nötig neu zu erfinden. Falls unsere Realität zu

    langweilig und vorhersehbar für einzigartige Ichigo-ichie-

    Erlebnisse ist, haben wir die Möglichkeit, uns

    eine andere zu erschaffen.

  10. Werde zum:r Jäger:in guter Momente – Wie bei jedem

    Handwerk und jeder Kunstfertigkeit gilt: Je mehr wir

    üben, umso reicher und großzügiger werden wir

    belohnt.

Hände halten Apfel - Foto: Canva.com

Der Apfel als Universum – Eine Ichigo-ichie-Übung von Thich Nhat Hanh

„Wenn du einen Apfel kaust, darf nichts anderes deinen Geist beschäftigen – keine Vorhaben, keine Abgabefristen, keine Sorgen, keine To-do-Listen, keine Ängste, kein Schmerz, keine Wut, nichts Vergangenes, nichts Zukünftiges. Es darf nur diesen Apfel geben.“

  • Verbinde dir die Augen so, dass du nichts mehr siehst.

  • Nimm den – zuvor gewaschenen – Apfel in die Hand und spüre sein Gewicht, seine Festigkeit und wie sich seine Schale anfühlt.

  • Nun halte dir den Apfel unter die Nase und atme ganz entspannt seinen Duft ein. Dies wird dir ermöglichen, seinen Geschmack noch stärker zu genießen, da Geschmacks- und Geruchssinn sich gegenseitig intensivieren.

  • Beiß in den Apfel. Bevor du kaust, spüre, wie sich das Stück Frucht auf der Zunge anfühlt – achte auf den Speichelfluss – und anschließend auch auf deine Zunge.

  • Kau nun das Stück Apfel, als sei es das Einzige, das im ganzen Universum existiert.

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