Wu Wei: Bewusster leben mit der Essenz des Tao

Wie wäre es, ab heute achtsamer zu leben? Zentrierter. Bewusster. All das ist möglich, indem wir die verborgene Weisheit des Tao nutzen. Eine der wichtigsten Lehren daraus ist Wu Wei: das Handeln durch Nicht-Tun. Und was paradox klingt, weist uns den Weg zu einem wahrhaft erfüllten Sein.

Frau sitzt in Wald
Erde dich mit dem Wu-Wei-Prinzip! Foto: Canva.com
„Stets frei von Wünschen, erkennst du klar das Geheimnis. Stets in Wünschen verstrickt, siehst du nur die Erscheinungsformen. Doch das Geheimnis selbst ist das Tor zu allem Verstehen. “
Laotse

Die Lebenskunst des Wu Wei

Was zunächst ziemlich verwirrend klingt, ist eine Einladung in die geheimnisvolle Welt des Tao und das Lebensprinzip des Wu Wei. Seine Bedeutung: Handeln durch Nicht-Handeln. Laotse fordert uns auf, unsere gewohnten Bahnen zu verlassen und uns mit der Kunst des paradoxen Denkens vertraut zu machen. Aber was meint er damit? „Übe dich im Nicht-Tun, und alles fügt sich zum Guten“, empfiehlt Laotse. Und das bedeutet keinesfalls, untätig zu bleiben, sondern einfach, dem natürlichen Lauf der Dinge zu folgen.

Nicht-Handeln verlangt von uns den Verzicht auf gegen den natürlichen Verlauf gerichtetes Handeln. Und genau das macht den Weg frei für kleine und große Wunder: „Anstrengung ist ein Teil des Ganzen, Nicht Anstrengung ein anderer Teil. Heben wir diese Zweiteilung auf, ist das Ergebnis müheloses Handeln, ohne am Ergebnis zu hängen“, erklärt der Tao-Experte Dr. Wayne Dyer.

In der Dialektik des Taoismus geht es um Menschen, die die Qualität des „unbehauenen Klotzes“ besitzen. Die Welt des unbehauenen Klotzes ist eine Welt voller Natürlichkeit und geprägt von Absichtslosigkeit. Sie ist frei von Motiven, von Ehrgeiz und Widerstand. Man lebt und empfängt alle Ereignisse mit offenen Armen. Ein taoistisches Grundprinzip lautet: „Geh mit dem Fluss.“ Es lädt uns ein, uns auf das Fließen der universellen Energie einzulassen. Teil dieses sich ständig wandelnden Prozesses zu werden. Egal, was passiert. Und indem wir uns dem Rhythmus des Lebens anpassen, erreichen wir irgendwann den Zustand des Wu Wei – des Handelns, ohne zu handeln. Des Nicht-Tuns.

Dinge loszulassen bedeutet, dass man sie sein lässt

Dieses Nicht-Tun hat nichts mit Faulheit oder Desinteresse zu tun. Vielmehr ist es das Gegenteil von blindem Aktionismus, der selten Gutes bewirkt, aber viel Schaden anrichten kann. Handeln durch Nicht-Handeln ist also kein Aufruf zur Passivität, sondern eine Einladung, unseren persönlichen Willen zu transzendieren und in einen Zustand des absichtslosen Tuns zu gelangen. Wu Wei heißt richtig verstanden: Wir lassen los, versuchen nicht, Ergebnisse zu steuern und zu kontrollieren, sondern entspannen uns, befreien uns aus den Fängen unseres Egos.

Kurz: Wir lassen einfach geschehen, was geschieht. Wir sind Beobachter. Ohne Wertung. Der Mensch des Tao trifft seine Entscheidungen spontan. Nie analysiert er eine Situation, er erfasst ihren Gehalt intuitiv, und aus dieser Intuition heraus wird er aktiv. Auf diese Weise ist es dem Ego nicht möglich, sich in Opposition zum Fluss des Tao zu stellen. Wer im Tao verweilt, und im Geist des Wu Wei lebt, weiß, dass er auf die Herausforderungen des Lebens, auf Schwierigkeiten und Probleme nicht mehr mit Kampf, mit Macht oder Anstrengung antworten muss. Auch braucht er sich den Kopf nicht darüber zu zerbrechen, wie die Dinge zu lösen sind. Täte er dies, so würde er den Problemen mit unzulänglichen Mitteln begegnen und damit der Fortsetzung von Leid Tür und Tor öffnen.

Mit Wu Wei ist das Glück der Weg

Gegen diese vollständig Akzeptanz dessen, was ist, gegen diese radikale Gegenwärtigkeit wird sich unser Verstand zunächst vehement wehren. Schließlich setzt sich dieser nur all zu gern mit Problemen auseinander – und das vorzugsweise mitten in der Nacht in endlosen Gedankenschleifen. Praktizieren wir jedoch Wu Wei, stoppen wir diese fruchtlosen Grübeleien. An die Stelle der ewig plappernden Gedanken tritt Aufmerksamkeit. Tritt Achtsamkeit. Und Konzentration auf das Jetzt.

Im Zustand des Wu Wei sind wir hellwach und registrieren alles, was um uns herum geschieht. Dadurch verändert sich unser Alltag, ja unsere gesamte Realität: Dort, wo früher unser konditionierter Verstand alle Sinneseindrücke zensiert hat, erfahren wir nun unmittelbar die Wirklichkeit – ohne irgendwelche verzerrenden, korrigierenden Einflüsse. Und das bewirkt, dass unser Leben einfacher und leichter, ja sogar glücklicher wird. Im Wu Wei gibt es keinen sinnlosen Eifer, keinen unnötigen Stress, keine eigennützigen Ziele. Stattdessen üben wir uns in einer Art kreativer Passivität.

Viele Künstler:innen praktizieren Wu Wei – nicht selten, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Wann immer das Ego außer Kraft gesetzt wird, tritt der Musiker hinter die Musik zurück, die Malerin hinter ihr Gemälde, der Autor hinter den Text – sie alle komponieren, zeichnen und schreiben nicht länger. Nein, sie werden selbst zur Musik, sie lassen sich musizieren, werden zur Schöpferkraft. Die Kreationen, Meisterwerke, Bücher – sie alle fließen durch sie hindurch. Und genau so – in diesem Zustand der entspannten Konzentration – können auch wir eintauchen in den kreative Strom, in das universelle Feld der Möglichkeiten. Dort ist kein Raum für das Ego-Ich. Vielmehr geht es um Zulassen, um Hingabe, um Offenheit für neue, frische Impulse. Darum, uns selbst und dem Leben so zu vertrauen, dass wir alles Kontrollierende loslassen, unseren Widerstand aufgeben und uns vertrauensvoll den universellen Kräfte des Lebens überlassen.

Im Wu Wei beobachten wir, wie sich alles entfaltet, registrieren, wie wir wachsen. Und heilen. Uns eröffnet sich eine völlig neuartige, eine fantastische Welt. „Wenn Sie viel Zeit mit Studium und Selbstvervollkommnung verbringen, so werden Sie in das Tao eintreten. Damit treten Sie auch in eine Welt außerordentlicher Wahrnehmungen ein. Sie erleben Unvorstellbares, nehmen Gedanken und Erkenntnisse wie von nirgendwo her auf, nehmen Dinge wahr, die man als Vorahnungen bezeichnen könnte“, sagt Dr. Dyer. Aber er warnt auch davor, über unsere Erfahrungen zu sprechen. Denn niemand, der nicht selbst das Tao kennt und Wu Wei praktiziert, wird uns jemals verstehen können.

Sonne scheint durch Baum
Wu Wei hilft dir, den Moment, die Natur und das bloße Sein zu genießen. Foto: Canva.com

Während du auf den Frühling wartest, sprießt das Gras

Natürlich beschränkt sich Wu Wei nicht nur auf unsere Arbeit, es umfasst alle Lebensbereiche. Und immer beginnt alles damit, dass wir darauf bauen, dass das Richtige geschieht und wir genau mit dem konfrontiert werden, was gerade unserer Entwicklung dienen mag. Im Zustand des Wu Wei verzichten wir darauf, in den natürlichen Verlauf der Dinge einzugreifen, und akzeptieren, was kommt. Denn wie Byron Katie sagt: „Wer sich mit der Realität anlegt, der hat schon verloren.“

Der Mensch des Tao trifft seine Entscheidungen spontan. Nie analysiert er stundenlang eine Situation, sondern erfasst ihren Gehalt intuitiv und reagiert. Auf diese Weise ist es dem kalkulierenden Verstand unmöglich, sich in Opposition zum Fluss des Tao zu stellen. „Akzeptiere. Dadurch resignierst du nicht, aber nichts raubt dir so viel Energie wie der Widerstand und der Kampf gegen eine Situation, die du nicht ändern kannst,“ rät der Dalai Lama.

Wer im Tao verweilt, weiß, dass er Herausforderungen des Lebens, seinen Nöten und Problemen nicht mehr mit Kampf, mit Macht oder Anstrengung begegnen muss. Er zerbricht sich auch nicht länger den Kopf darüber, wie er auf irgendwelche zukünftigen Ereignisse reagieren könnte.

So schrieb Meister Zhuang bereits vor 2300 Jahren: „Sie sind aufrecht und gerecht, ohne zu wissen, dass solches Tun Rechtschaffenheit darstellt. Sie lieben einander, ohne zu wissen, dass solches Güte ist. Sie sind ehrlich und wissen doch nicht, dass solches Treue ist. Sie halten ihre Versprechen, ohne zu wissen, dass sie damit in Glaube und Vertrauen leben. Sie stehen einander bei, ohne daran zu denken, Geschenke zu vergeben oder zu empfangen. So hinterlässt ihr Handeln keine Spur.“ Das Ganze im Blick zu behalten, statt sich auf Details zu fokussieren, sich zu entspannen, statt verkrampft zu Werke zu gehen, unter Druck lieber eine Pause mehr einzulegen, Freiräume für spontane Entwicklungen offen zu halten, wahrzunehmen, ohne sofort zu beurteilen – das sind grundsätzliche Aspekte des Wu Wei, von denen wir profitieren.

„Wie ein Gebirgsbach entspringt die innere Ruhe dem Nichttun und nicht dem Tun.“
Andreas Tenzer

Das Wu Wei rät: Ändere, was du kannst, und wenn nichts geht, lass es geschehen

„Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Ich bin, was ich bin, und ich kann mich in diesem Augenblick von dem, was ich bin, nicht unterscheiden“, schrieb einst Gertrude Stein. In vielen Fällen wollen wir, dass etwas auf die eine oder andere Weise geschieht, oder wir erzwingen Situationen, anstatt sie in ihrem Rhythmus der Harmonie geschehen zu lassen. Es ist menschlich zu versuchen, sich gegen etwas zu wehren, das uns nicht behagt, dennoch sollten wir uns von der Weisheit der Erfahrungen leiten lassen, bis wir akzeptieren, es einfach fließen zu lassen. Denn Widerstandslosigkeit und Loslassen verhindern neues Leid. Bewusstes Gewahrsein schafft den Raum für positive Entwicklungen.

Wayne Dyer legt uns ans Herz: „Lass auch du dich auf diese Vorstellung ein, dass eine Pflanze durch Wu Wei wächst, ohne gezwungen zu werden zu wachsen – sie tut es einfach.“ Es geht also darum, die Dinge auf eine natürliche Art und Weise anzugehen, ohne sie erzwingen zu wollen und sie in ihrer Harmonie zu stören. Soll heißen: Ändere etwas, wenn du kannst, und wenn nicht, dann „fließe“. Statt uns gegen das Schicksal aufzulehnen, können wir die Entscheidung treffen, durch das „Nicht-Handeln“ zu wachsen. Krishnamurti sagt dazu: „Jeder Konflikt bedeutet Widerstand. In einem Fluss, der schnell fließt, gibt es keinen Widerstand. Er fließt vorbei an großen Steinen, durch Dörfer und Städte. Der Mensch kontrolliert das für seinen eigenen Zweck. Doch das einmal außer acht gelassen, bedeutet Freiheit dann nicht das Ausbleiben dieses Widerstandes, den das Denken um sich herum selbst erschaffen hat?“

Jeder von uns reagiert unterschiedlich auf die Dinge, die ihm im Leben widerfahren. Es ist wichtig, dass wir in ausweglosen Situationen die Hilfe jener Mitmenschen annehmen, die uns eine Stütze sein können. Wir müssen nicht allein durch dunkle Zeiten gehen. Das soll jedoch nicht heißen, dass wir in die Opferrolle schlüpfen, sondern dass wir uns Vertraute suchen, die uns in diesen Phasen zur Seite stehen. Die uns dabei unterstützen, unseren Weg zu gehen.

Im I Ging können wir lesen: „Wer sich selbst in Zeiten der Ruhe meistert, verfügt über Entschiedenheit, wenn es ums Handeln geht. Wer innerlich über Stabilität verfügt, dessen Handlungen führen nicht zu Misserfolg. Ruhe ist die Grundlage der Bewegung. Bewegung erschafft das Potenzial der Ruhe. Ruhe wird erreicht, indem man den Kopf leert.“ Probleme entstehen gemäß der taoistischen Lehre, wenn die Dinge nicht im Gleichgewicht sind. Doch wie gelangen wir nun ins Wu Wei, in diesen Zustand innerer Freiheit und Leichtigkeit? Im Taoismus wird der Weg der „inneren Alchemie“ empfohlen. Die Weisen verstehen darunter das Eintauchen in die Stille – und es ist die Meditation, die uns dorthin führt. Der Gelehrte Dschuang Tse beschreibt den Weg in die Mühelosigkeit des Wu Wei mit drei einfachen Worten: „Sitzen und vergessen.“

Buchtipp zu Wu Wei

Dr. Wayne Dyer: „Ändere deine Gedanken - und dein Leben ändert sich: Die lebendige Weisheit des Tao.“, Goldmann, 14 Euro

Leben im Einklang mit Wu Wei und der Weisheit des Tao

Es ist zweifellos eines der wichtigsten Weisheitsbücher der Welt. Ein Werk, geschaffen für die Ewigkeit. Dr. Wayne Dyer verdanken wir kraftvolle Lektionen, die unser Leben für immer verändern können. Wie du das Wu Wei in dein Leben einlädst und davon profitierst, zeigen dir die folgenden Ratschläge.

1. Entdecke dein Paradies

Du kannst dein ganzes Leben an einem einzigen Ort verbringen und glücklich sein. Verabschiede dich von der Vorstellung, du müsstest durch die Welt reisen, um Erfüllung zu finden. Im Sinne des Tao ist der folgende Satz von Voltaire: „Das Paradies ist da, wo ich bin.“ Wenn du dich dort, wo du bist, zu Hause fühlst, kann das dein Paradies sein. Ändere deine Haltung und freu dich an dem, was du hast, wo du dich befindest und wer du bist. Spüre das Tao in jedem Zentimeter Raum. Du wirst erfahren: Das allein kann schon viel bewirken, vielleicht sogar alles verändern.

2. Sei für andere da

„Der Weise hortet nicht, und somit gibt er. Je mehr er für andere lebt, desto größer sein Leben. Je mehr er anderen gibt, desto größer seine Fülle.“ Schreibe diesen Text aus dem Tao per Hand ab. Denk darüber nach und versuche ihn täglich mindestens einmal in die Tat umsetzen. Damit fügen wir dem Fluss des Tao in unserem Leben in der Welt der zehntausend Dinge neue Energie zu. Wir ernten, was wir säen.

Waldbach
Auch du kannst dank Wu Wei den Fluss des Tao in deinem Leben spüren. Foto: Canva.com

3. Übe Wertschätzung

Wu Wei richtig verstanden bedeutet, achtsam zu sein und freudig mit Menschen und Dingen umzugehen, die Teil unseres Lebens sind. Viel zu oft sehen wir alles als selbstverständlich an – unsere Familie, Freunde, unser Heim, die Möbel, Kleider und Mahlzeiten. Wie wäre es, unsere Mitmenschen ab jetzt liebevoll wertzuschätzen. In unserem Heim bewusst Zeit zu verbringen und ehrfürchtig nach und nach zu erkennen, wie viele Schätze es bereits in unserem Leben gibt.

„Der Mensch ist umso reicher, je mehr Dinge er liegen lassen kann.“
Henry David Thoreau

4. Tu nichts, alles ist getan

Glück kommt zu uns, sobald wir uns bewusst entscheiden, im Leben loszulassen und nichts zu tun. Indem wir den Wunsch aufgeben, immer in den Lauf der Dinge eingreifen zu wollen, ziehen wir die kooperative Kraft des Tao an. „Ändere also deine Gedanken und stelle fest, wie sich dein Leben tatsächlich in einer Weise ändert, die von Glück bestimmt wird“, rät uns Wayne Dyer. Betrachte mit Hilfe des Wu Wei das Loslassen als Möglichkeit, dich vom natürlichen Lebensrhythmus durchströmen zu lassen, ohne ihn zu behindern. Loslassen im Leben heißt Sorgen, Stress und Angst abzulegen. Laotse ermahnt uns: „Erzwungenes wächst eine Weile, doch dann welkt es dahin.“ Unser Mantra: Ich bin offen dafür, zuzulassen, was geschehen soll. Ich vertraue darauf, dass das Glück mich lenkt.

5. Die Weisheit der Stille erkennen

Laotse ruft uns auf, im höchsten Zustand des stillen Wissens zu leben, an jenem Ort tief im Innern, der sich niemandem mitteilen lässt. Dort werden wir erkennen, wer wirklich weise ist. Menschen, die überzeugende eigene Ansichten vortragen, halten wir meist für gebildet. Aber: Wer redet, sagt Laotse, lebt nicht vom Ort des stillen Wissens aus und weiß somit nicht. Lassen wir seine Ansicht auf uns wirken, werden wir die Welt anders wahrnehmen. Zuerst werden wir feststellen, dass diejenigen, die sich zum Überzeugen anderer gedrängt fühlen, fast immer an irgendetwas anhaften. Dann wird unser Bedürfnis, klug zu sein, der tiefen Einsicht weichen, dass diese Dinge irrelevant sind. Wir geben die Suche nach Anerkennung auf. Im stillen Wissen zu leben, wird zu einem Prozess, der unser Dasein verändert. Wir werden ruhiger, weicher und zentrierter.

6. Lebe das Tao im Jetzt

Verbringe eine Stunde, einen Tag, eine Woche damit, gemäß dem Wu Wei niemandem unaufgefordert einen Rat zu geben oder aus deinem Leben zu erzählen. Höre einfach zu. Laotse sagt, dies sei „der höchste Stand des Menschen“.

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