Schattenarbeit: Die Kraft deiner Schattenseiten
Treue Partnerin, liebevolle Mutter, fürsorgliche Tochter: Wir alle haben verschiedene Rollen, jede Situation erfordert eine andere Seite von uns. Doch manche unserer Seiten wollen wir nicht zeigen und halten sie im Schatten verborgen. Dabei liegt gerade dort oft unser größter Schatz. Wie du sie mit Schattenarbeit ans Licht bringen und von ihnen lernen kannst, erfährst du hier.
Welche Rollen spielst du?
Zuletzt stand ich vor meinem Kleiderschrank und stellte verwundert fest, dass ich, seit ich geschieden bin, einige Kleider nicht mehr trage. Zum Beispiel diesen langen, schwarzen Abendrock. Ich gehe aus, aber nicht in diesem Rock. Und so hängen dort noch mehr Kleidungsstücke, die typisch ins Leben einer verheirateten Frau passen, aber nicht in das einer Singlefrau. Es ist, als würde ich einen Teil meines Kostüms im Bühnenstück meines Lebens beiseite legen, weil eine Rolle weggefallen ist. Rollenmuster kennen wir alle – in jeder Rolle verhalten wir uns ein wenig anders. Rollen haben gute Seiten: Sie geben Halt, erklärt die Psychologin Machteld Stakelbeek. Du weißt, was zu tun ist und was von dir erwartet wird. Als Ehefrau geht man nicht fremd, als Mutter ist man fürsorglich, und als Unternehmerin hat man Ambitionen. „Es wird erst dann ein Problem, wenn du dich zu sehr mit deiner Rolle identifizierst“, sagt sie. „Wenn du nur Mutter bist und die Kinder ausziehen, oder die wichtigste Rolle die der Ehefrau ist und die Ehe zerbricht, oder du dich als erfolgreiche Karrierefrau fühlst und entlassen wirst. Dann muss man sich gewissermaßen neu erfinden.“
Mit Schattenarbeit die Göttinnen in deiner Seele entdecken
Die amerikanische Psychiaterin Jean Shinoda Bolen hat in ihrem Buch „Göttinnen in jeder Frau“ verschiedene Frauenrollen nach griechischen Göttinnen beschrieben: Es sind weibliche Archetypen oder Kräfte, die wir alle in uns haben: Hera ist die Frau von Zeus und die Göttin der Ehe, also die, die ich ein wenig verloren habe. Aphrodite, Göttin der Liebe, habe ich meines Erachtens noch: Sie ist die Meisterin der Schönheit und Körperbewusstheit. Auch die Energie von Demeter, der uralten Göttin des Getreides, der fürsorglichen Mutter, die sich für andere einsetzt und Gartenarbeit genießt, spüre ich. Ebenso wie die von Artemis, der Frau mit einer Mission, die Ideale hat und Abenteuer liebt. Ich hege auch die Hestia in mir, die meditierende Göttin des Tempels. Und Persephone erkenne ich in mir, das ewige Mädchen mit Humor, das immer das Gute im Menschen sieht. Die Athene in mir ist natürlich die Karrierefrau, die analytische Autorin. Aber Hera ist weg. Ist das schlimm? „Vielleicht hast du sie bereits ausreichend gelebt“, erklärt Psychologin Stakelbeek, „oder sie kommt noch einmal zurück. Denn Hera geht es nicht nur um die Verbindung mit einem Mann, sondern auch um die Einheit zwischen dem Weiblichen und Männlichen in dir selbst.“ Schattenarbeit kann dich dabei unterstützen.
Männlicher und weiblicher Kern
Jede Frau hat laut der jungianischen Psychologie einen männlichen Kern in ihrer Seele, ihren Animus. Ebenso wie ein Mann einen weiblichen Kern in seiner Seele hat, seine Anima. Solange man sich dessen jedoch nicht bewusst ist, projiziert man diesen auf andere und verliebt sich in Menschen, die dem eigenen Animus oder der Anima ähneln. Laut Jung muss jeder Mensch letztendlich diese beiden in sich selbst verbinden, um ein vollständiger Mensch zu werden. Ein heilender, weniger gebrochener Mensch zu werden, ist auch das Ziel der therapeutischen Arbeit mit Rollen. Wir neigen immer dazu, auf andere zu projizieren, was wir selbst nicht sein dürfen. Und werden wörtlich integrer, wenn wir weniger in uns verdrängen und unsere Schattenseiten durch die Schattenarbeit ans Licht treten lassen. Denn eine Rolle, die wir unterdrücken, führt manchmal dazu, dass wir Dinge tun, die wir selbst nicht verstehen. Bolen beschreibt in ihrem Buch eine Schauspielerin, die unbedingt eine große Rolle wollte, aber einen eifersüchtigen Ehemann hatte. Am Tag des Vorsprechens verschlief sie. Sie kam zu spät und versaute damit ihre Chancen. „Ihre Hera sorgte dafür, dass sie nicht über ihren Mann hinauswuchs“, erklärt Machteld. „Manchmal bekommt eine Frau auch Probleme mit Hera, wenn sie mehr verdient als ihr Partner. Dann nimmt sie unbewusst Rücksicht auf seine Empfindlichkeit und möchte ihm seine Rolle nicht wegnehmen.“
Menschen bleiben oft aus Angst in einer Rolle hängen: Was passiert, wenn ich nicht mehr der Chef bin, wenn ich nicht mehr den Clown spielen kann, wenn ich nicht länger das dumme Blondchen spiele, sondern zeige, wie klug ich wirklich bin? „Wenn du dich hinter deiner Rolle versteckst“, sagt Machteld, „kannst du auch erstarren. Du wirst unecht. Die Kluft zu deinem wahren Selbst wird größer, und du verlierst die Verbindung zu dir selbst.“
Die Schattenseiten des braven Mädchens
Oft wird uns eine Rolle in der Erziehung auferlegt – als Kind braucht man die Liebe seiner Eltern, also neigt man dazu, ihren Wünschen und Erwartungen nachzukommen. „Deine Mutter wollte zum Beispiel eine liebe, tortenbackende Tochter, und du bist eigentlich ein mutiges Baumkletter-Mädchen. Wenn dieser Baumkletter-Teil in der Familie abgelehnt wird, kommt er in den Schatten.“ Ein derart brav gewordenes Mädchen kann auf Frauen eifersüchtig werden, die offen, mutig und sportlich sind.
„Früher hatte ich Widerstand gegen Persephone, das Mädchen“, erzählt Machteld Stakelbeek. „Denn ich wurde mit der Idee erzogen, dass ich selbstständig sein und niemals um Hilfe bitten soll. Aber ohne Persephone hast du auch weniger Freude. Also habe ich bewusst den Kontakt zu diesem vernachlässigten Teil von mir gesucht. Jetzt habe ich sie vollständig umarmt, sie ist bei mir, wenn ich in meinem Theaterkolleg auftrete, und bei Konsultationen hilft sie mir, mitzufühlen und mitzugehen.“
Auch für ihre Aphrodite musste sie noch Schattenarbeit leisten: „In meiner Jugend war sexy sein tabu, vulgär. Das habe ich später ausgelebt, indem ich Bauchtanz machte, mit allem Drum und Dran, den Röcken, dem Schmuck. Die unterdrückte Sinnlichkeit fand eine Form, nach außen zu kommen. Athene vergesse ich manchmal, und dann denke ich plötzlich: Oh ja, klar denken! Das hilft. Was sind die Fakten und was ist genau das Problem?“
Schattenarbeit verbindet
„Jeder trägt einen Schatten“, sagte der Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung, „und je weniger er im bewussten Leben des Individuums verkörpert wird, desto schwärzer und dichter wird er.“ In der Mitte des ersten Jahres meiner Rebalancing-Ausbildung hatten wir ein Schattenfest. Man sollte verkleidet kommen als eine der Rollen, die man normalerweise nicht lebt, die man verdrängt. Es wurde uns schon Monate im Voraus erklärt, und wir wurden eindringlich gebeten, es ernst zu nehmen: Dies hatte bereits viele Leben verändert.
Ich machte mich sofort daran, meinen Schatten zu erforschen. Zuerst dachte ich: eine Autorität, eine Anführerin, das bin ich nie, diese Rolle verdränge ich. Ich buchte eine Sitzung bei einem Coach, um an meiner inneren Hohepriesterin zu arbeiten, aber das lief eigentlich sehr gut. Diese dominierende Seite hatte ich doch in mir, erkannte ich. Okay, dann würde ich als Geldgieriger gehen, jemand, der alles tut, um reich zu werden. Das war mir doch total fremd? Ich interviewte einen Bankdirektor, las Bücher über Geld und entwickelte ein Geldspiel. Aber dabei erkannte ich, dass es gar nicht so schlimm war, dass ich Geld gar nicht so verabscheue. Und plötzlich sah ich es: Diese Aufgabe machte mich hysterisch. Andere Leute warteten bis ein paar Wochen vor dem Fest und machten sich dann an die Arbeit. Ich musste und wollte wieder bis zum Grund gehen. Und ich beschloss, nichts zu tun. Mich nicht zu verkleiden, keine Rolle zu erfinden. Als die Glocke läutete und wir in vollem Ornat zur Präsentation antreten sollten, blieb ich im Bett liegen. Sofort geriet mein inneres Kind in Panik. Jetzt fangen sie sicher ohne mich an, dachte ich, jetzt gehöre ich nicht mehr dazu. Das war aufschlussreich.
Glücklicherweise klopfte einer der Teilnehmer an meine Tür, und es wurde trotzdem ein unvergesslicher Abend. Während ich stumm, untätig und nicht mitspielend an der Seite saß und all diese wunderbar verkleideten Kommilitonen ihre verbotenen Seiten auslebten, gewann ich eine Fülle an neuen Selbstkenntnissen. Ich habe immer noch einen enormen Antrieb, aber jetzt bin ich mir dessen bewusst, was dahintersteckt. Und ich kann meine Energie besser dosieren.
Hol dein inneres Kind von der Schattenseite
„Im Schatten befindet sich alles, was wir wegdrücken müssen, um zu überleben, um akzeptiert zu werden“, sagt Godfried Beumers, Schauspieler, Geschichtenerzähler und kreativer Therapeut. „Aber was dauerhaft unterdrückt wird, verwildert. Und nur weil es im Schatten liegt, heißt es nicht, dass es nicht wertvoll ist. Es steckt immer Kraft darin. Wenn du sie nach draußen bringen kannst, ohne dir selbst und anderen zu schaden, kannst du die ursprüngliche Energie verfügbar machen.“
Er erzählt, wie er als angehender Schauspieler ein schüchterner, junger Mann war, „der Junge, der alles in Ordnung bringen wollte“. „Ich hatte eine Figur für eine Vorstellung entworfen in einem knallrosa Jackett, hohen Absätzen, einer Boa und einer platinblonden Perücke, die Menschen mit einem einzigen tödlichen Blick zum Erstarren bringen konnte. Ich hatte es selbst erfunden, aber fand es schrecklich zu tun. Es dauerte ein paar Wochen, um so niederträchtig spielen zu können. Aber dann brachen die Dämme. Und danach war diese Seite von mir auch in meinem Leben besser integriert.“
Er erzählt von Schattenworkshops, die er gab. „Wir hatten ein Zimmer voller Kostümständer, Hüte und Perücken und falsche Bärte, und im Nu waren die Teilnehmer:innen spielende Kinder. Diese Arbeitsweise entfernt viele der tragischen und hysterischen oder erstarrten Aspekte.“
In einigen Workshops stellten die Teilnehmer:innen selbst schreckliche Masken ihrer monströsesten Schattenseiten her. „Diese Masken durften danach ins Feuer, damit jeder sich von dieser Schattenrolle verabschieden konnte. Aber acht von zehn Menschen wollten ihre Maske nicht hergeben; sie wollten freier damit umgehen können. Sie hatten erfahren, dass darin eine enorme verborgene Kraft steckte. Das ist der Kern der Schattenarbeit. Die Kräfte, die du bekämpfst, müssen vielleicht neu erzogen werden, aber sie sind sehr wichtig.“
Bündnis mit dem Monster durch Schattenarbeit
Einmal hatte er eine Sängerin aus einer ehrgeizigen Theaterfamilie in Therapie. „Ihre Mutter wollte, dass sie Opernsängerin wird. Die Tochter tat alles, um ihr zu gefallen, und dank der Kontakte ihrer Mutter trat sie international auf. Regelmäßig ging es bei der Aufführung schief. Sie verhielt sich unmöglich, war betrunken, jagte dem Dirigenten hinterher oder geriet mit dem Publikum in Streit. Innerhalb eines Jahres war sie nirgendwo mehr willkommen. Sie kam zu mir in Therapie, um diesen zerstörerischen Teil ihres Schattens besser kennenzulernen. Sie zeichnete ein drei Meter hohes Monster, ging mit ihm in den Dialog und schloss schließlich ein Bündnis mit diesem Aspekt ihres Schattens.“
„Ein Jahr später hatte sie sich bei den großen Opernhäusern entschuldigt und war überall wieder willkommen. Und inzwischen ist sie aus der klassischen Musik ausgestiegen. Jetzt ist sie ein großer Musicalstar auf ausländischen Bühnen. Ich habe sie kürzlich in einer Glanzrolle gesehen: von Weltniveau, mit einem Charme, einer Ausstrahlung … und in dieser spezifischen Rolle die perfekte freundliche Dame. Aber alles, was sie spielte oder sang, hatte einen Haken, etwas Scharfes oder Giftiges. Sie hat also einen der Aspekte ihrer Schattenfigur in ihr bewusstes Verhalten integriert.“
Ganzheitlicher werden
Das lateinische Wort persona bedeutet Maske. Im alten Rom trugen Schauspieler hölzerne Masken, die zeigten, welche Figur sie spielten, und durch die ihre Stimme erklang. Unsere Persönlichkeit ist eine Art Maske, durch die unser wahres Wesen klingt, könnte man sagen. Dein Charakter ist deine einzigartige Menschlichkeit; es gibt keinen anderen wie dich. Masken sind immer Klischees. Aber niemand wird ängstlich, brav und gehorsam geboren, und niemand kommt als sich selbst überschreiender arroganter Grobian zur Welt. Solche Masken aufzusetzen lernen wir im Laufe unserer Kindheit gezwungenermaßen, unter Druck von Umständen und durch Erziehung.
Spirituelle Entwicklung und auch Schattenarbeit bedeuten, so viele Masken wie möglich abzulegen, um ein ganzheitlicheres, integreres und freieres Individuum zu werden.