Ikigai – Wofür es sich zu leben lohnt

Ikigai ist wesentlich für ein erfülltes und langes Leben, so heißt es in Japan – denn „es gibt uns jenen Appetit auf das Leben, der uns jeden neuen Tag freudig begrüßen lässt“. Wir schauen uns diese Lebensphilosophie genauer an.

Schild mit Ikigai
So kannst du dein Ikigai leben. Foto: Canva.com

Was ist Ikigai?

Welcher Leidenschaft, welchen wahren Freuden möchte ich mein Dasein widmen, welche innere Haltung gibt mir den Antrieb, mein Leben zu gestalten und es immer wieder neu auszurichten und weiterzuführen? Kurz: Was ist meine Bestimmung und macht mein Leben lebenswert? In Japan lautet die Antwort: Das Ikigai. Die Bedeutung des Begriffs lässt sich etwa mit „Sinn des Lebens“ (iki = Sinn, gai = der Wert, den etwas hat) übersetzen und umfasst eine Lebensphilosophie, die den Menschen „den Grund liefert, morgens aufzustehen“. Den Japaner:innen zufolge hat jeder Mensch ein Ikigai; tief verborgen liegt es in jedem von uns. Und einmal gefunden, birgt es den Schatz eines langen, zufriedenen, gesunden, erfüllten Lebens. Wobei es so ist, dass das Ikigai uns zwar Stabilität gibt, sich zugleich aber auch mit uns verändert, entwickelt und wächst. Vielleicht ist es wie eine Grundmelodie zu verstehen, die einen durchs Leben begleitet, trägt und führt. Sie besteht aus verschiedenen festgelegten Tönen, die in ihren Ausführungen aber ganz individuell sein können und erst im Zusammenspiel eben jene unverwechselbare Melodie – unsere Bestimmung – ergeben. Der japanische Autor Ken Mogi bezeichnet Ikigai als „eine Art Denk- und Verhaltensknotenpunkt“, um den sich verschiedene Lebensgewohnheiten und Wertesysteme organisieren. Diese wiederum beruhen auf fünf Säulen: 1. Klein anfangen, 2. Loslassen lernen, 3. Harmonie und Nachhaltigkeit leben, 4. Die Freude an kleinen Dingen entdecken, 5. Im Hier und Jetzt sein.

Das Geheimnis des Ikigai

Diese Säulen bilden das tragende Gerüst – als entscheidende Grundlagen –, auf dem Ikigai gedeiht. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus und sie sind nicht allumfassend; ebenso wenig folgen sie einer bestimmten Reihenfolge oder Hierarchie. Im Folgenden schauen wir uns die einzelnen Säulen noch etwas genauer an und lassen uns von Beispielen aus der japanischen Kultur, Tradition und Denkweise inspirieren, diese auch auf unser Leben anzuwenden. Denn jeder kann sein persönliches Ikigai finden. Es ist nicht von äußeren Umständen oder den eigenen Leistungen abhängig. Im Gegenteil, Ikigai hilft, das Beste aus allem zu machen; es schenkt uns Resilienz und Widerstandskraft. Und Ikigai scheint nicht nur ein Grund für ein glückliches Leben, sondern auch für die außergewöhnliche Langlebigkeit der Japaner:innen zu sein, vor allem jener, die auf der Insel Okinawa leben. Dort befindet sich „das Dorf der Hundertjährigen“. Dessen Bewohner eint ihr besonders hohes Alter und ein Lebensstil, der Hinweise darauf gibt, was die Essenz des Ikigai ist: ein Gefühl von Gemeinschaft, eine ausgewogene Ernährung und ein Bewusstsein für Spiritualität. Das größte Geheimnis des Ikigai aber dürfte sein, uns selbst zu akzeptieren – egal, mit welchen einmaligen Eigenschaften wir zufällig geboren wurden, in ihrem Zusammenspiel können sie uns unseren wahren Lebenswert offenbaren.

Ikigai-Buchtipp

Ken Mogi: Ikigai – Die Japanische Lebenskunst, Dumont Verlag, 20 €

Die fünf Säulen des Ikigai

Ein Blick in die japanische Lebensweise zeigt, wie wunderbar und kreativ die Philosophie des Ikigai darin eingebettet ist. Lass dich hier von den fünf Säulen inspirieren.

1. Säule des Ikigai: Klein anfangen

Was macht dich neugierig? – In Japan gibt es viele handwerklich arbeitende Bäuer:innen, die all ihre Zeit, Energie und Erfindungsgabe aufwenden, um das beste und leckerste Obst und Gemüse anzubauen. Sie perfektionieren den Boden, planen und nutzen optimale Schnitt und Bewässerungsmaßnahmen und wählen die zu pflanzenden Sorten mit großer Sorgfalt. Sie geben sich unglaubliche Mühe und bringen somit ihr Kodawari zum Ausdruck. Das ist ein Ansatz, bei dem sehr großer Wert auf sehr kleine Details und auf das Klein-Anfangen gelegt wird. Es ist eine persönliche Einstellung zur Qualität, die oft ein ganzes Leben lang bewahrt wird und ein Kernelement des Ikigai darstellt. Es offenbart den Stolz auf das, was wir tun. Für Kodawari ist Engagement und Leidenschaft wichtig, aber ebenso eine offene, neugierige Haltung, ein jugendlicher Geist, der nicht dazu ver führt, gleich im großen Stil anzufangen, sondern im Kleinen. Wenn wir in kleinen Schritten denken und handeln, überfordern wir uns nicht so leicht und haben die Ruhe, Gelassenheit und Offenheit, uns währenddessen immer tiefer und detaillierter mit unserer Tätigkeit zu verbinden und immer mehr von unserer Individualität einzubringen – was sie schließlich zu etwas ganz und gar Besonderem macht. Beobachte dich bei deinen Tätigkeiten: Mit welcher Einstellung verrichtest du diese, und wie verändern sie sich, wenn du sie mit neugieriger, offener Haltung in kleinen Schritten erledigst?

2. Säule des Ikigai: Loslassen lernen

Was lässt dich selbstvergessen werden? – Loslassen führt uns in die Selbstvergessenheit, befreit uns von der Bürde des Ichs. Diesen Zustand kennen wir auch unter dem Begriff „Flow“, bei dem Menschen so sehr in eine bestimmte Tätigkeit versunken sind, dass nichts anderes mehr zu zählen scheint. Im Flow können wir uns auf freudvolle, symbiotische Weise mit unserer gerade ausgeführten Tätigkeit identifizieren, sie wird zum Selbstzweck. Wenn wir es schaffen, den Geisteszustand des Flow zu erreichen, beginnen Alltagsaufgaben wieder Spaß zu machen. Wir werden nicht mehr das Bedürfnis nach Anerkennung für unsere Arbeit oder Anstrengung haben, keine Belohnung irgendwelcher Art mehr suchen. Plötzlich rückt die Vorstellung in greifbare Nähe, in einem Dauerzustand von Glück zu leben. Um einen Flow-Zustand zu erreichen, müssen wir allerdings unser Ego loslassen. Schließlich ist nicht das Ego von Bedeutung, sondern der Moment und die Gesamtheit der unendlich vielen Nuancen der Elemente einer Tätigkeit. Das Loslassen in diesem Sinne ist eng verbunden mit Absichtslosigkeit, Achtsamkeit und mit dem Im-Hier-und-Jetzt-Sein (5. Säule). Du kannst es ausprobieren, wenn du etwa ein Bild malst, ohne dass es jemand sehen wird; eine Kurzgeschichte schreibst, die keiner lesen wird, oder Musik machst, wenn niemand zuhört.

Frau im Wald
Verbinde dich mit deiner Umwelt und der Natur und fühle das Ikigai. Foto: Canva.com

3. Säule des Ikigai: Harmoie und Nachhaltigkeit leben

Wie kannst du dich mit anderen verbinden?„Die Welt ist nicht die Welt nur eines Menschen“, in der japanischen Kultur hat Ikigai viel damit zu tun, in Harmonie mit der Umgebung zu sein, mit den Menschen im eigenen Umfeld, der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und der Natur. Es heißt: Menschen sind wie ein Wald – individuell, aber doch verbunden und für ihr Wachstum von anderen abhängig. Ein Beispiel für Harmonie und Nachhaltigkeit ist Maoi. Dabei handelt es sich um die Tradition, sich in lokalen Gemeinschaften mit gemeinsamen Interessen zu verbinden und einander zu helfen. Das gibt den Menschen ein Gefühl von Zusammengehörigkeit sowie emotionale und finanzielle Sicherheit. „Jeden Tag mit den Leuten zu reden, die man gern hat, das ist das Geheimnis eines langen Lebens“, heißt es im Dorf der Hundertjährigen auf der Insel Okinawa. Wie kannst du deine individuellen Wünsche und Bedürfnisse mit Rücksicht auf Natur und Mitmenschen entwickeln? Denke dabei im kleinen Maßstab, geduldig, irdisch und weitsichtig. Eine andere Übung: Stell dir vor, du bist in einem wunderschönen, stillen Wald. Hole tief Luft. Und dann denke darüber nach, was nötig wäre, um diesen Wald nachhaltig zu bewahren.

4. Säule des Ikigai: Die Freude an kleinen Dingen

Was ist dein Grund, morgens aufzustehen? – Der Sonnenaufgang, die Tasse Kaffee im Bett, der Duft einer Blume … Ikigai lebt im Reich der kleinen Dinge. Und genau aus diesen verstehen es die Japaner:innen, für sich vergnügliche Rituale und Routinen für ihren Alltag zu etablieren. So fröhnen viele Angestellte dem Radio taiso (Radiogymnastik): Frühmorgens treffen sie sich im Park zur täglichen Morgengymnastik. Andere nutzen ihren langen Fahrtweg zur Arbeit, um in Bus und Bahn mit ihren Mitpendler:innen shogi (japanisches Schach) zu spielen. Sowohl der Shogi-Zirkel als auch die Radio-taiso-Clubs nutzt die Kraft der Gemeinschaft und die Entdeckung des Vergnügens in kleinen Dingen, um die Motivation für das frühe Aufstehen und Pendeln zu stärken. Auch wird in Japan die Gewohnheit gepflegt, schon morgens die Lieblingsspeisen und -getränke zu sich zu nehmen, das setzt im Gehirn Dopamin frei und bestärkt die Handlung (Aufstehen) kurz vor der Belohnung (Süßes und Tee). Vielleicht findest auch du in kleinen Dingen ein Vergnügen, das dir zur täglichen Routine werden mag? Wie wäre es, wenn du mit den anderen regelmäßigen Pendler:innen auf deinem Weg zur Arbeit einen Buchclub gründest, oder du bereitest dir morgens ein köstliches Frühstück zu, auf das du dich nach einer sanften Joggingrunde oder ein paar Stretching-Übungen freust? Was versüßt und erleichtert dir den Tag?

5. Säule des Ikigai: Im Hier und Jetzt sein

Was lässt dich im Moment verweilen? – Ins Hier und Jetzt versunken zu sein und Vergnügen daraus zu ziehen – und dabei auf kleinste Details zu achten – ist die Essenz der Kunst der Japanischen Teezeremonie. Dieser entspringt auch der Begriff ichigo ichie (wörtlich „ein Moment, ein Treffen“) und bedeutet, die flüchtige Natur jeder Begegnung mit Menschen, Dingen oder Ereignissen im Leben anzuerkennen. Gerade weil ein Treffen flüchtig ist, will es ernst genommen werden. Schließlich ist das Leben erfüllt von Dingen, die nur ein Mal geschehen. Wenn wir diese bemerken, wiederholt sich nichts. Jede Gelegenheit ist besonders. Wandle einmal mit diesem Gedanken durch den Tag. Die Tradition der Teezeremonie ist ein wunderbares Beispiel, weil alle fünf Säulen des Ikigai darin vereint sind: Bei einer Teezeremonie bereitet der Meister die Gestaltung des Raumes sorgfältig vor und achtet genauestens auf jede Einzelheit wie etwa die Auswahl des Blumenschmucks (das Klein-Anfangen). Ein Geist der Demut ist der Grundzug des Teemeisters und der Gäste, selbst wenn sie langjährige Erfahrung mit der Zeremonie haben (das Loslassen). Viele der Gefäße, die bei einer Teezeremonie verwendet werden, sind jahrzehnte- oder manchmal gar jahrhundertealt und werden so ausgewählt, dass sie miteinander in Einklang stehen und einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen (Harmonie und Nachhaltigkeit). Trotz der akribischen Vorbereitungen ist das oberste Ziel einer Teezeremonie, sich entspannt an den sinnlichen Details zu erfreuen (die Freude an kleinen Dingen) und in einem Zustand der Achtsamkeit den inneren Kosmos des Teeraums geistig in sich aufzunehmen (das Im-Hier-und-Jetzt-Sein).

Die Ikigai-Methode

Anhand der fünf Säulen des Ikigai ist die Idee dieser japanische Lebensphilosophie zu erkennen: sein Leben gemäß bestimmten Werten und Haltungen zu gestalten und einzurichten, sodass wir täglich Tiefe und Freude empfinden, unabhängig von den Umständen. Um den übergeordneten Sinn des Lebens, die individuelle Bestimmung zu finden, kann dir das folgende Ikigai-Modell helfen. Dabei handelt es sich um ein Diagramm aus vier sich überschneidenden Kreisen. Wobei jeder Kreis für sich einen wichtigen Lebensbereich darstellt, der aber erst in der Schnittmenge ersichtlich wird. Wie genau die Methode funktioniert und wie du sie ganz praktisch umsetzen kannst, erfährst du jetzt.

Wie du deinem persönlichen Ikigai auf die Spur kommst

Mit der Ikigai-Methode kannst du herausfinden, was dir im Leben am wichtigsten ist, was das Leben für dich persönlich lebenswert macht und wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen. Und so geht’s:

  • Suche dir einen ruhigen Ort, an dem du alleine mit deinen Gedanken sein kannst.

  • Gestalte dein eigenes Ikigai-Modell gestalten. Zeichne dafür vier sich überlappende Kreise – zwei auf der horizontalen und zwei auf der vertikalen Ebene. Dabei soll eine zentrale Schnittmenge zwischen allen vier Kreisen entstehen, sodass sich auch zwischen den einzelnen Kreisen größere Schnittmengen gebildet haben.

  • Im nächsten Schritt benennst du die Kreise in beliebiger Reihenfolge mit einer der folgenden Bezeichnungen: „Das, worin ich gut bin“, "Das, was ich liebe“, „Das, was die Welt braucht“, „Das, wofür ich bezahlt werden könnte“.

Ikgai-Methode
Zum Ikigai gehören Liebe, Leidenschaft, Bedürfnisse, Berufung, Geld, Fähigkeiten, Profession und Mission. Foto: Canva.com

Mach dich auf den Weg

Jetzt versuchst du die vier Kreise jeweils mit einem oder mehreren verschiedenen Begriffen zu versehen, wie etwa Yoga, Tanzen, Meditieren, Gartenarbeit. Nimm dir ruhig Zeit, und überlege genau, welche Aktivitäten und Dinge einen wirklichen Mehrwert in deinem Leben darstellen. Spüre in dich hinein und gehe so Kreis für Kreis durch. Du kannst auch andere Menschen befragen, um deine versteckte Talenten und Potenziale auf zu spüren. Vielleicht helfen dir auch die folgenden Fragen zu den einzelnen Bereichen:

  1. Was kann ich besonders gut?

    Wirst du von Freunden oder Familie auf besondere

    Fähigkeiten angesprochen? Kannst du Dinge besser,

    als andere? Wie kannst du deine Fähigkeiten am

    sinnvollsten in deinem täglichen Leben einsetzen,

    damit du selbst und deine Mitmenschen davon

    profitieren?

  2. Was liebe ich?

    Welche Dinge begeistern dich? Was lässt dein Herz

    höher schlagen? (Das kann auch eine Emotion sein)

    Was wird dir nie langweilig? Wofür brennst du?

  3. Was kann ich der Welt geben?

    Was denkst du, was du der Welt bieten kannst oder

    sie von dir gebrauchen könnte? Erfüllen dich diese

    Dinge mit Sinn? Und stimmen sie mit deinem

    persönlichen Werten überein?

  4. Wofür könnte ich Geld bekommen?

    Wie kann ich mit meiner Arbeit Geld verdienen? Gibt

    es schon einen entsprechenden Beruf? Wenn nicht,

    wie könnte dieser aussehen?

Lebe deine Passion dank Ikigai

Im nächsten Schritt betrachtest du die Schnittmengen der Kreise: So kannst du etwa die Übereinstimmung aus deinen persönlichen Vorlieben und Talenten als deine große Leidenschaft, deine Passion bezeichnen. Wenn du also Yoga sowohl von Herzen gern praktizierst als auch ganz besonders gut darin bist, ist es vermutlich eine große Leidenschaft mit viel Weiterentwicklungspotenzial. Und es ist ein zentraler Bereich deines Ikigais, an den die weiteren drei Bereiche anknüpfen werden. Auf diese Weise gehst du auch mit den anderen Kreisen vor: Aus der Schnittmenge der Dinge, die du liebst und die, die du der Welt geben möchtest, ergibt sich deine individuelle Mission. Sie stellt mehr oder weniger den Sinn der menschlichen Existenz dar. Der nächste Bereich deines Ikigais geht aus der Kombination der Dinge hervor, die die Welt braucht und womit du Geld verdienen könntest – deine Berufung, deine Sinnaufgabe. Sie kann dem Beruf, der Profession, ähnlich sein. Der Beruf ist aber eher das Mittel, während die Berufung der Zweck des Ganzen ist. Deine Profession ist die Schnittmenge deiner Fähigkeiten und dessen, womit du Geld verdienen könntest. Wenn du jetzt auf die vier Schnittmengen schaust, die sich zwischen jeweils zwei Kreisen bilden, erkennst du einen kleinen, zentralen Bereich: Das ist dein ganz individuelles Ikigai – der Zusammenklang all dessen, was dein Leben lebenswert macht.

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