Haiku-Gedichte: Das Universum in siebzehn Silben

Ein Haiku-Gedicht bietet Einblicke in dich selbst und in das Leben – in drei Zeilen und siebzehn Silben. Du kannst diese japanische Dichtkunst selbst schreiben oder lesen – und es wird sich ein Universum an Weisheit öffnen.

Japanische Schriftzeichen auf Blatt
Ein Haiku-Gedicht ist eine japanische Kunstform. Foto: canva.com

Was ist ein Haiku-Gedicht?

Ein Gedicht aus drei Zeilen, die jeweils fünf, sieben und fünf Silben umfassen und die du in einem Atemzug aussprechen könntest. Und das zudem ein Wort enthält, das auf eine Jahreszeit anspielt. Die Regeln für ein Haiku-Gedicht sind einfach – doch zugleich stellt diese Form vielleicht die umfassendste aller Dichtkünste dar. Denn Haikus sprechen von etwas Großem und Unergründlichem: von der Welt um uns herum, mit der wir tief verbunden sind. Die Philosophie hinter dem Haiku fußt auf dem Zen-Buddhismus und dem Taoismus. In der Weltsicht dieser östlichen Strömungen bilden das Große und das Kleine eine Einheit; wir Menschen sind mit dem größeren Ganzen verbunden. Makro- und Mikrowelt sind identisch, sie spiegeln und enthalten einander. Du kannst das Universum im Auge einer Biene sehen – und genau das strebt ein Haiku an. Es zoomt auf etwas Kleines, etwas scheinbar Einfaches, etwas Alltägliches – wie ein Bienchen, das sich in einer Blume versteckt, oder schwankende Schilfgräser im Wind. Doch plötzlich betrachtest du es mit frischen Augen, als würdest du es zum ersten Mal sehen, fühlen, erleben. Der Nebel lichtet sich, und plötzlich hast du in einem Bruchteil einer Sekunde eine klare Einsicht. Etwas berührt dich und fällt an seinen Platz; du entdeckst etwas Wertvolles und Wesentliches: über dich selbst, über dein Leben – vielleicht sogar über das Leben selbst. Ein Haiku versetzt dich ins Hier und Jetzt. Sein Schreiben wird oft als eine Form der Meditation angesehen. Es ist ein Gedicht, das einen Moment reinen Einblicks in wenigen Worten einfängt – und so ist es auch eine Methode, zur Essenz einer Erfahrung zurückzukehren und deinen „Zen-Geist“ zu trainieren. Um der Welt völlig frei zu begegnen, ohne Annahmen, Vorurteile oder Erwartungen, und einfach zufrieden zu sein mit dem, was auf deinem Weg kommt. Die große Frage ist nun natürlich: Wie schreibt man Haiku-Gedichte? Und wie liest man sie eigentlich? Sieben Dinge, die man über die Kunst des Haiku-Dichtens wissen sollte, mit Haiku-Beispielen, Tipps und Tricks von der renommierten niederländisch-japanischen Haiku-Dichterin Fuyuko Tomita.

Buchtipp

„Haiku: Japanische Dreizeiler” von Jan Ulenbrook, Reclam, ca. 10 €

1. Die Leichtigkeit des Lebens in einem Haiku-Gedicht

Haiku bedeutet so viel wie „ein fröhliches Verslein“ und entstand einst als Anfangsvers eines langen Reimgedichts, an dem verschiedene Dichter abwechselnd Strophen hinzufügten. Es war Matsuo Basho, der berühmteste Haiku-Dichter der Geschichte, der im siebzehnten Jahrhundert das Haiku reformierte. Der buddhistische Mönch verlieh ihm eine tiefere Bedeutung: Seine Haikus waren mehr als das, was man an der Oberfläche sah; seine Bilder waren auch Symbole. Gleichzeitig zeichneten sich seine Gedichte durch ihre Schlichtheit aus – doch gerade in dieser Einfachheit versuchte er, das Wesen des Daseins zu erfassen. Nehmen wir eines seiner bekanntesten Haikus als Beispiel:

Der alte Weiher.

Ein Frosch springt hinein

das Geräusch des Wassers.

BASHO

Wie bei einem stillen Teich verbirgt sich unter der Oberfläche des Haikus eine Welt voller Bedeutungen. Fuyuko Tomita sagt: „Die Menschen hier sagen oft: ‚Ach ja, Haiku, ein kleines Gedicht über die Natur, na und?‘ Das ist so schade! Haiku als Naturgedicht ist nur ein Ansatz. Es geht nicht um den Menschen, der aus der Ferne die Natur betrachtet, sondern um den Menschen als Teil der Natur, es geht um das Leben. Und es lohnt sich wirklich, sich darauf einzulassen, denn ein Haiku ist wie ein Gemälde von Vermeer oder Van Gogh: es ist an sich schon bemerkenswert, aber wenn man die Symbolik versteht und etwas mehr über den Hintergrund der Maler weiß, dann zieht man noch viel mehr daraus.“

Frosch springt über Teich
Ein sehr bekanntes, japanisches Haiku-Gedicht handelt von einem Frosch. Foto: canva.com

2. Siebzehn Silben

Nach den Regeln besteht ein Haiku-Gedicht aus siebzehn Silben, verteilt auf drei Zeilen mit fünf, sieben und fünf Silben. Es ist sinnvoll, sich an diese Struktur zu halten, wenn man mit dem Haiku-Dichten beginnt. Man sollte dies so lange üben, bis man vollkommen vertraut mit dem Rhythmus des Haikus ist, rät Fuyuko Tomita. „Einfach tausendmal machen, an die Regel halten! Wenn der Rhythmus einmal sitzt, kann man damit spielen.“ Und dann ist die genaue Anzahl der Silben nicht mehr so wichtig, denn was letztendlich noch wichtiger ist, sind der Rhythmus und dessen Unterbrechung. Es gibt eine Art „Hüpfer“ im Haiku, wo der Atemzug unterbrochen wird – dein Atem stockt, der Gedanke springt um. Fuyuko Tomita sagt: „Im Japanischen werden die Zeichen eines Haikus einfach hintereinander auf einer Linie geschrieben. Aber es gibt immer ein Zwischenwort, das den Fluss unterbricht. Im Deutschen kannst du das mit einem Gedankenstrich, einem Ausrufezeichen oder einer Seufzerlaute, wie ‚ah!‘, anzeigen.“ Das bekannte Teich-Haiku von Basho könnte auch so übersetzt werden:

Der alte Weiher.

Ein Frosch springt hinein -

platsch!

Genau genommen hat es so nicht die korrekte Anzahl der Silben, aber es ist dennoch ein ausdrucksstarkes Haiku-Beispiel. „Dieser eine Moment der Überraschung, wenn dein Herz einen Sprung macht, ein Moment, der etwas hervorruft, weil es schön oder vielleicht traurig ist – das ist ein Haiku-Moment.“

3. Ein Haiku-Gedicht ist mehr als das Geschriebene

Ein traditionelles Haiku enthält ein Kigo, ein Wort, das mit den Jahreszeiten verbunden ist, wie etwa Blüten (Frühling), Mücken (Sommer) oder Taifun (Herbst). Es handelt sich um ein Schlüsselkonzept, ein Wort, das weit mehr als eine einzige Bedeutung hat. Das Saisonwort vermittelt dem kundigen Leser sofort einen Gefühlswert: die fröhliche Leichtigkeit des Frühlings, ein warmer, drückender Sommertag, die Melancholie herabfallender Blätter oder die Stille eines Wintertages, wenn es schneit. Der Jahreswechsel wird quasi als eine Art fünfte Jahreszeit hinzugefügt – er verweist unter anderem auf das Thema Neuanfang. Fuyuko Tomita erklärt: „Für ein Konzept wie ‚Schnee‘ gibt es in der japanischen Sprache bereits viele verschiedene Worte und Beschreibungen. ‚Blüten des Windes‘ steht beispielsweise für den Moment, wenn es gerade zu schneien beginnt, die großen Schneeflocken dann herabwirbeln.“ Es gibt spezielle Wörterbücher, in denen die Haiku-Wörter erklärt werden, mit Beispielen von Haikus, in denen sie verwendet wurden. „Diese umfassen schnell vier separate Teile für die Jahreszeiten und einen Teil für den Jahreswechsel.“ Für ein Haiku empfiehlt Tomita ebenfalls, ein Naturwort zu wählen, das eine Jahreszeit oder eine bestimmte Zeit des Jahres impliziert. Herbstblatt. Schnee. Gedenktag. Ein einfaches Wort genügt – benutze es, als ob du es zum allerersten Mal verwenden würdest.

So, als müsst‘ es sein,

fielen dicke Flocken heut –

Frühlings letzter Schnee.

ISSA

4. Begegnung mit Bedeutung

Das Lesen von Haiku-Gedichten bedeutet vor allem: aufmerksames Lesen. „Ein Haiku benötigt zwei Menschen: einen Schreiber und einen Leser“, sagt Fuyuko Tomita. „Ein Leser muss gewissermaßen die Essenz erfassen können. Es geht darum, die Erfahrung von Klarheit und Einsicht mit jemandem zu teilen. Als Leser bist du aktiv, du liest nicht zwanzig Haikus schnell hintereinander, sondern lässt sie auf dich wirken. Was bedeutet das Haiku für dich? Es gibt viel Raum für Interpretation. Deshalb ist es so spannend, mehr über Haikus und ihre Dichter zu erfahren. Es ist eine Art wesentliche Begegnung.“ Der große japanische Haiku-Dichter Issa (ein Autorenname, der „Tasse Tee“ bedeutet) schrieb beispielsweise oft über verletzliche kleine Tiere, wie Insekten, die er oft mit viel Zuneigung beobachtete. Dies gewinnt an Bedeutung, wenn man weiß, wie viel Rückschläge Issa in seinem Leben ertragen musste: Seine Mutter starb, als er drei Jahre alt war, später verlor er seine Frau und seine Kinder.

Alles was ich anfasse

mit Zärtlichkeit, leider,

Stiche wie eine Brombeere.

ISSA

Schmetterling auf Blume
Ein Haiku-Gedicht hat immer einen Naturbezug. Foto: canva.com

5. Zurück zu den Basics

Einfachheit, Reinheit, ein unvoreingenommener Blick – Haikus zu dichten, bedeutet, mit dem Geist eines:r Anfänger:in zu arbeiten. Der/Die wahre Meister:in kehrt nach Jahren der Übung wieder zu diesem Punkt zurück. Das Dichten von Haikus ist eine Methode, den langen Weg zurück zur Einfachheit zu gehen: die reine Erfahrung, bei der man sich selbst vergisst und gerade dadurch einen Moment des spirituellen Einblicks und ein Gefühl der Einheit mit der Welt erlebt. Das ist der Haiku-Weg. Fuyuko Tomita sagt: „Ein Haiku handelt nicht nur von Bäumen und Blumen. Wenn du im Anblick der Blumen das Universum siehst und wenn du diese Blumen in ein paar Worten mit etwas in dir selbst verbinden kannst, dann verschmelzen diese zwei Welten. Das ist ein Moment der Wahrheit, ein Einblick in das Wesen des Lebens. Ein Moment, in dem der Leser denkt: dass jemand etwas in Worte fasst, für das es zuvor keine Worte gab.“

Ach Schmetterling!

Könntest du singen,

in einem Käfig wärst du schon lange!

BASHO

6. Hinaus auf die Pfade des Haikus

„Folge nicht den Spuren der Weisen der Vergangenheit“, schrieb der Haiku-Meister Basho, „sondern suche das, was sie gesucht haben.“ Das Suchen und Finden eines Haiku-Moments ist eine Art Naturmeditation. Ein Haiku-Gedicht schreibst du nicht hinter deinem Computer – es bedarf direkten, unmittelbaren Kontakts mit der Außenwelt, deiner eigenen Wahrnehmung, dem, was du hörst, fühlst, siehst, riechst und schmeckst. Geh in den Garten oder den Park, entlang eines Waldwegs oder durch eine Dünenlandschaft – was siehst du? Wie erkennst du, welche Jahreszeit es ist? Welche kleinen Ereignisse fallen dir auf? Vielleicht ein Mistkäfer, der eine Kugel einen Hügel hinaufschiebt. Ein Regentropfen, der an einem Blatt hängt, oder die Sonne auf deinem Weg, all das kann Stoff für ein Haiku sein. Gehst du nicht nach draußen? Dann schreibe über das Spinnennetz im Türrahmen. Das Schwierigste ist, solch einen Haiku-Moment zu beschreiben, ohne ihn zu beurteilen. Betrachte ihn mit einem „Zen-Geist“, lass ihn einfach sein. Beschreibe nur, was deine Sinne wahrnehmen. Ohne Schnörkel oder Verzierungen, ohne es schöner zu machen, als es ist, ohne dein Ego einzubeziehen. Das ist der Tao, der Weg des Haiku, denn gerade wenn das alles abgeschält ist, wenn du zurück bei dieser scheinbar einfachen Beobachtung bist, kannst du einen Moment einfangen, der mehr bedeutet, etwas Universelles, das für andere erkennbar ist. So dass unser Leserherz einen Sprung macht: „Ha!“ Vielleicht ist das Dichten von Haikus ja ein Versuch, wirklich Kontakt zu deiner Seele, zum Universum aufzunehmen – und wenn das nicht gelingt, den Versuch zumindest mit einem milden Lächeln zu betrachten. Denn wenn du lächelst, fühlst du dich sowieso besser, sagt Fuyuko Tomita. „Lachen ist, was der Himmel will. Ich liebe Haikus mit Humor – dafür gibt es übrigens ein Wort: Senryu.“

Seltsamer Anblick

der unbewegte Wagen

des kranken Nachbarn

ANONYM

7. Ein Haiku-Gedicht bietet einen persönlichen Einblick

Durch die Betonung des reinen Erlebens kann das Schreiben von Haikus auch persönliche Einsichten bieten. Fuyuko Tomita begann selbst Haiku und Tanka (etwas längere, lyrische Gedichte) zu schreiben, als sie vierzig war. Sie lebte bereits seit einiger Zeit in den Niederlanden und fühlte sich von ihrer japanischen Heimat und ihrer Muttersprache abgeschnitten. Das Schreiben von Gedichten, die ihren Ursprung in ihrer japanischen Heimat hatten, war eine Möglichkeit, diese Verbindung zumindest mit Worten und Traditionen wiederherzustellen.

Schwarze eiserne Glocke

in der weißen Sommernacht

klingelt unentwegt

FUYUMA TOMITA

„Dieses Haiku ist inspiriert von dem klassischen Haiku: ‘In einer schwarzen eisernen Windglocke klingelt der Herbst.’ Ich habe selbst eine schwarze Schmiedeeisenwindglocke in meinem Garten aufgehängt, die bei jedem Hauch von Wind klingelt. Es ist ein klarer Klang, genau wie die kleinen Glocken, die Mönche in japanischen Tempeln verwenden, um die Seele zu reinigen. Weiße Nächte sind in Japan unbekannt und stehen daher symbolisch für ein fernes Land, aber auch für das Gefühl, ein Außenseiter zu sein. Diese Glocke verkörpert die Emotionen aus deinem Heimatland, die klingen, manchmal leise, manchmal laut, und der Wind ist überall gleich. Meine Windglocke klingelt jetzt friedlich.”

Wildschweine sogar

werden weggeweht –

Herbststurm

BASHO

Gerade weil man in einem Haiku-Gedicht zur Essenz zurückkehrt, kann es helfen, seine Aufgabe im Leben zu finden, sagt sie. Und vielleicht sollten wir das auch mit Leichtigkeit betrachten. “Letztendlich, denke ich, ist es deine Aufgabe, glücklich zu sein. Was du im Leben getan hast, ist nicht so wichtig. Wie viel Freude du hattest, das ist wichtig.” Ein Gedicht so leicht wie eine Feder, das die Schwere der Welt enthält, aber auch aufhebt, so dass wir uns einen Moment schwerelos fühlen – in den schönsten Lesemomenten kann das ein Haiku bewirken.

Die Amsterdamer Haikus von Fuyuko Tomita

Die japanische Dichterin Fuyuko Tomita (1943) verließ nach ihrem Studium ihre Heimat und absolvierte ein kreatives Schreibprogramm an der Universität von Iowa. Sie arbeitete für die Vereinten Nationen in New York und zog 1970 nach Holland, wo sie heiratete und zwei Kinder bekam. Als Dozentin für Japanisch war sie am Japan Prizewinners Programme der Universität Leiden beteiligt. Ihre Haikus und Tankas, mit denen sie mehrere Preise gewann, erschienen unter anderem in der japanischen Zeitung Asahi Shimbun, die eine Auflage von Millionen hat. Fuyuko Tomitas jüngste Gedichtbände sind „Wind-bell, white night” (Haiku) und „Go home, my songs” (Tanka). Sie lebt und schreibt in Amsterdam.

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