Wabi-Sabi: Von der Schönheit des Unvollkommenen

Wabi-Sabi kennt den Ausdruck „wertvoll“ nicht, nach dieser Lehre erhält alles erst dadurch seinen Wert, dass wir es lieben. Und nicht etwa das Perfekte verdient unsere Liebe – sondern eben das Unperfekte mit all seinen Makeln. Denn nur sie vermögen das wahrhaft Einzigartige zu erschaffen.

Vase mit Kirschblütenzweig
Fallende Kirschblüten sind Wabi-Sabi. Foto: canva.com

Kirschblüten und die Entstehung des Wabi-Sabi

Vor langer Zeit wollte ein junger Zen-Mönch namens Sen no Rikyu den Weg des Tees erlernen. Mit diesem Ansinnen suchte er Takeno Jôô auf, den bedeutendsten Teemeister seines Landes. Dieser war bekannt dafür, potenziellen Schülern die immer gleiche Aufgabe zu stellen – er wies sie an, seinen Garten zu säubern. Bisher allerdings hatte keiner diese Prüfung je bestanden; ohne Erklärung waren alle Bewerber vom Meister abgewiesen worden. Auch Rikyu bekam die Anweisung, den Garten herzurichten, und er machte sich sogleich an die Arbeit, harkte und fegte, bis der Boden in vollkommener Ordnung war. Dann allerdings tat er etwas Ungewöhnliches: Er schüttelte den Kirschbaum, bis einige Blüten wie zufällig zu Boden fielen. Noch in dieser Stunde nahm ihn Takeno Jôô als Schüler an. Diese Anekdote wird seit mehr als 500 Jahren überliefert – sie gilt als Schlüsselereignis der Wabi-Sabi Philosophie, die Sen no Rikyu, der junge Zen-Mönch, viele Jahre später maßgeblich prägte und die über Jahrhunderte das Verständnis der Japaner:innen von wahrhaftiger Schönheit grundlegend verändern sollte: Wabi-Sabi und seine Bedeutung als die Lehre von der Anmut des Vergänglichen. Wabi-Sabi erkennt die Schönheit dessen, was das Auge übersieht; es ist die Liebkosung des Unvollkommenen, die Huldigung des scheinbar Schlichten.

Die Revolution der Tee-Zeremonie durch Wabi-Sabi

In seinen Aufzeichnungen „Nanporoku“ über die Geheimnisse der Tee-Zeremonie schreibt Rikyu: „Ein luxuriöses Haus und der Genuss erlesener Speisen sind lediglich Freuden der mondänen Welt. Es genügt vollauf, wenn ein Haus einfach nur dem Wetter standhält und Essen vorhanden ist, um den Hunger zu stillen.“ Dieser Gedanke bricht vollkommen mit den damals herrschenden Ansichten, die das Prächtige, Pompöse, Perfekte in den Vordergrund stellen und die im Bau massiv-goldener Tee-Häuser gipfeln. Rikyu revolutioniert diese Haltung komplett: Für seine Tee-Zeremonien lässt er Häuschen errichten, die kaum zehn Quadratmeter messen und eher armseligen Bauernhütten gleichen. Ganz bewusst wählt er grob bearbeitete, beinahe groteske Gegenstände aus Naturmaterialien anstatt der feinen, kunstvollen Utensilien aus China, die zu jener Zeit in Mode sind. Und so gelingt dem Mönch etwas ganz Außergewöhnliches: Im geschützten Raum dieser kleinen Tee-Häuser verändert sich die Wahrnehmung der Menschen und die Wirkung der augenscheinlich abstoßenden Gegenstände verkehrt sich in ihr Gegenteil. Das Nicht-Schöne gewinnt plötzlich eine Präsenz, eine Tiefe und ein Gewicht, die es erstrahlen lässt, allein dadurch, dass die Gegenstände voller Achtung genutzt und wertgeschätzt werden. Und zwar als das, was sie in Wahrheit sind: Dinge, die gezeichnet sind vom Lauf der Zeit; die Spuren des Lebens tragen, ohne sie verhüllen und ohne den Versuch, immerwährende Perfektion vortäuschen zu wollen. Sie sind, was sie sind. So, wie auch wir sind, was wir sind – unvollkommen und vergänglich.

Wabi-Sabi Geschirr
Dank Wabi-Sabi sehen wir die Schönheit in vermeintlich unperfekten Dingen wie diesem Teeservice. Foto: canva.com

Nichts ist perfekt

„Wabi Sabi unterstützt alles, was authentisch ist, da es drei einfache Wahrheiten anerkennt: nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen und nichts ist perfekt“, sagt der Autor Richard R. Powell. So existiert in dieser Lehre der Ausdruck „wertvoll“ nicht, denn das würde zugleich den Ausdruck „nicht wertvoll“ einschließen; beides ist undenkbar, denn Schönheit und Wert, so meint Wabi-Sabi, sind veränderliche Bewusstseinszustände. Wer auf dieser Welt könnte schon bestimmen, was sie wirklich sind – erstrahlt eine Blume erst dann wahrhaftig in Schönheit, wenn sie blüht, oder bereits, wenn der Same keimt, aus dem sie einmal erwachsen wird? Oder gar erst dann, wenn sie zerfallen ist und als Dünger nachfolgende Blumen nährt…? Wabi-Sabi ist alles, was Zeichen der Abnutzung, der Benutzung trägt – es sind die Rostflecken, die Verfärbungen, der Zerfall, die Risse, Dellen und Kratzer, die alle für sich eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die einmalig ist, weil sie sich genau so nur ein einziges Mal auf dieser Welt zugetragen hat. „Utsukushii“, das japanische Wort für „Schönheit“ entwickelte sich ursprünglich aus dem Begriff „geliebt werden“ – und genau das ist Wabi-Sabi: Nicht die Abwertung aufgrund von Makeln, sondern das Entdecken der Makellosigkeit im Einzigartigen. Wabi-Sabi ist der alte Sessel mit seinem verschlissenen Bezug, auf dem wir so viele wunderbare Stunden verbrachten; es ist die ungelenke Töpferarbeit unseres Kindes, die wie durch ein Wunder trotzdem dicht hält; es ist das zerfledderte Taschenbuch, das wir als Jugendliche bestimmt hundert Mal gelesen haben. Es sind Dinge, die vielleicht für jeden anderen unbedeutend, hässlich gar erscheinen mögen – und die wir lieben. Nicht trotzdem. Sondern genau deswegen.

Wabi-Sabi lehrt: Benutze, was du liebst!

Eine der Grundlagen des Wabi-Sabi besagt: Entferne alles Überflüssige und behalte nur, was einen wahren Wert darstellt. Diese Dinge müssen nicht absichtlich hässlich sein, im Gegenteil: „Wabi-Sabi bedeutet nicht, das Fesselnde eines Gegenstandes zu mindern, jene Eigenschaft, die uns dazu bringt, es immer, immer und immer wieder anzusehen“, erklärt der amerikanische Künstler und Schriftsteller Leonard Koren. „Die Poesie soll erhalten bleiben. Wabi-Sabi-Gegenstände sind stets voller emotionaler Wärme, niemals lassen sie uns kalt.“ Er rät: „Setze auf das Schlichte, auf Materialien, die Jahrzehnte überdauern, und sieh zu, wie sie gemeinsam mit dir altern. Halte alles sauber, aber nicht steril. Benutze, was du liebst!“

„Liebe die Schönheit der Unvollkommenheit.“
Wabi-Sabi Zitat

Wabi-Sabi als Zen der Dinge

Tatsächlich wird Wabi-Sabi seit jeher eng mit dem Zen-Buddhismus in Verbindung gebracht; es gilt als „Zen der Dinge“ und wird bis heute als Entsprechung der ersten der buddhistischen Vier Edlen Wahrheiten, Dukkha, angesehen. Diese besagt unter anderem, dass alle Dinge, da sie unbeständig sind, uns niemals wahrhaftig zufriedenstellen können. Es ist das Unbeständige selbst, das wir annehmen müssen. Wabi-Sabi lehrt, dass alles sich aus dem Nichts nährt, da alles vergeht. Die Planeten und die Sonne, selbst immaterielle Dinge wie Was bleibt, ist dieses: Wabi-Sabi beschreibt ganz bewusst etwas Unbeschreibliches. Etwas, das wir nur in uns selbst finden, in den Tiefen unserer Seele erspüren können. Es gibt keinen Leitfaden. Kein Buch, das uns erklärt, was wir selbst zu fühlen lernen sollen. Genau genommen existiert bis heute nicht einmal eine konkrete Definition dessen, was Wabi-Sabi eigentlich ist. Und auch das ist Absicht – ein alter Brauch aus dem Zen-Buddhismus, dessen Anhänger:innen zufolge grundlegende Erkenntnisse niemals durch das geschriebene oder gesprochene Wort übermittelt, sondern allenfalls auf geistiger Ebene erfahren werden können. So sollten Fehlinterpretation der leicht falsch zu verstehenden Lehren reduziert werden. Bis heute sind viele Anhänger:innen der Meinung, Wabi-Sabi müsse seine rätselhaften, kaum fassbaren Eigenschaften bewahren. „Einige glauben, diese Lehre darf ihrem Wesen nach überhaupt nie vollkommen begriffen werden“, sagt Leonard Koren. „Denn am Ende stellen die fehlenden, nicht genau bestimmbaren Kenntnisse einfach nur einen weiteren Aspekt der Wabi-Sabi innewohnenden Unvollständigkeit dar…“

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