Dein Traumleben – Über das Leben, das du nicht führst

Darüber denken wir manchmal doch alle nach: das Leben, das wir hätten führen können, wenn alles nur ein wenig anders verlaufen wäre... Es sind unsere „ungelebten Leben“: sie sind ein Teil dessen, wer du bist und können deinem Sein zusätzlichen Glanz verleihen. Wie, das verraten wir dir hier.

Person blickt durch Finger auf Meer
Wie würde dein Traumleben aussehen? Foto: canva.com

Was wäre wenn... Stell dir vor, ich hätte Russisch studiert. Wäre ich jetzt Korrespondentin in Moskau? Nein, warte, stell dir vor, ich wäre nach der Schule weiter gereist. Hätte ich vielleicht in Amerika gelebt? Noch so eine Überlegung: Stell dir vor, ich hätte damals kein Ehrenamt beim lokalen Radiosender gemacht. Dann hätte ich den Vater meiner Kinder nie getroffen. Mein ganzes Leben hätte dann völlig anders ausgesehen.

Wirklichkeit vs. Traumleben – Entscheidung oder Zufall

Ungelebte Leben haben wir alle. Es geht nicht nur um die Entscheidungen, die wir in unserem bisherigen Leben selbst getroffen haben, sondern auch um die Entscheidungen, die der Zufall für uns getroffen hat. Wenn du darüber nachdenkst, wird dir schwindelig. Jeden Tag gibt es Dutzende Momente, in denen du links abbiegst, einen Bus verpasst oder auch nicht, Menschen triffst oder nicht. Wer weiß, wie dein Leben jetzt aussähe, wenn es nur ein wenig anders gelaufen wäre. Eine andere Zahl und du hättest die Lotterie gewonnen. Und das ist nur eine der Arten von ungelebtem Leben. Es gibt auch die Traumleben, die Art von Leben, die wir uns selbst in der Zukunft vorstellen. Oder die Fantasieleben, in denen du virtuos Gitarre spielst oder in einer Beziehung mit jemandem bist, der in Wirklichkeit unerreichbar ist, den du aber dennoch von Herzen liebst. Je weiter du auf der Reise deines Lebens kommst und je mehr du überblicken kannst, desto deutlicher erkennst du, was auch hätte sein können. Als ob du einen Berg hinaufsteigst und beim Zurückschauen die anderen Wege klarer siehst.

Das Traumleben anderer

„Kind“, sagte meine Lieblingstante, als ich mit ihr essen ging, „als ich anfing zu arbeiten, hatte ich die Wahl. Ich konnte als Direktionssekretärin in einem großen Unternehmen anfangen, oder ich hatte ein Angebot, in der Botschaft in Addis Abeba zu arbeiten. Darüber habe ich wirklich lange nachgedacht.“ Es war eine Lebensentscheidung gewesen, da waren wir uns einig. Sie entschied sich für den Job als Direktionssekretärin, traf dort ihren späteren Mann und führte in vielerlei Hinsicht ein erfülltes Leben – doch es war natürlich ein ganz anderes Leben als das im diplomatischen Dienst. Plötzlich öffneten sich auch für mich Türen zu einer Jugend, in der ich immer wieder in ferne Länder hätte reisen können, zu meiner Tante, die vielleicht Botschafterin geworden wäre – wer weiß? Wie cool wäre das gewesen! Ich sah meine Tante plötzlich mit anderen Augen; es war, als würde ein neues Licht angehen, weicher. Ihr ungelebtes Leben begann im Hintergrund zu leuchten.

Unser Traumleben begleitet uns

In seinem Buch „Das ungelebte Leben” schreibt Adam Phillips: „Wir teilen unser Leben mit den Menschen, die wir nie geworden sind.“ Er spricht von dem „Mythos unseres Potenzials“, der uns ein Leben lang verfolgen kann. Wir beginnen alle vielversprechend. Vor uns liegt ein Leben, und wir träumen davon, wie wir es füllen – und es scheint selbstverständlich, dass wir unsere Träume verwirklichen sollten. Nicht nur träumen, sondern tun! Denn das ist die Botschaft: Du kannst alles erreichen, wenn du nur willst. Und wenn das nicht geschieht, aus welchem Grund auch immer, nagt das an uns. Wenn du alle Chancen hattest, dann liegt es nur an dir selbst, wenn du deine Träume nicht wahr machst. Hole alles aus dem Leben heraus! Nutze dein Talent! Später wirst du es bereuen! Wenn, wenn, wenn. Diese ungelebten Leben sind uns so nah. Ein Musikfetzen, ein Geruch, eine Kleinigkeit, die du siehst, und plötzlich ist es da, das Leben mit demjenigen, den du geliebt hast. Vielleicht spürst du den Schmerz, zerrissen zu werden, zwischen der Welt, in der du lebst, und der, in der du leben willst und leben könntest. Oder du triffst jemanden, der deinen nicht eingeschlagenen Weg gegangen ist, und denkst: Dort hätte auch ich sein können. Wenn ich nur... „Wenn ist verbrannter Torf“, sagte meine Großmutter früher. Sie meinte damit, dass es keinen Sinn hat, darüber zu sprechen. Man muss dieses Leben leben. Hier und jetzt. Punkt. Da hatte sie natürlich recht, aber trotzdem: Unsere ungelebten Leben sind ständig im Hintergrund präsent. Du kannst sie von dir weisen, aber sie verschwinden nicht. Ein Kind, das du nicht bekommen hast – es wächst leise im Hintergrund heran. Wie alt wäre es jetzt? Es ist ein Risiko: Je unglücklicher du bist, desto wahrscheinlicher ist es, dass das ungelebte Leben dein wirkliches Leben übernimmt.

Der Spiegel von Nerhegeb

Ich denke dabei an den Spiegel von Nerhegeb (lies das Wort rückwärts, um die Bedeutung zu erkennen) aus den Harry Potter-Büchern. Der magische Spiegel, in dem jeder das sieht, was er sich am meisten wünscht. Harry Potter schleicht sich nachts heimlich fort und setzt sich vor den Spiegel. Darin sieht er sich selbst mit seinen Eltern, die er nie gekannt hat. Sie schauen ihn an, lächeln und legen ihre Hand auf seine Schulter. Es ist Professor Dumbledore, der Harry sanftvom Spiegel wegholt. Er erzählt ihm, dass er Menschen gesehen hat, die vor diesem Spiegel verkümmerten. Manchmal ist es mit Traumleben genauso. Du brauchst einen Dumbledore, der dich davon wegholt. Jemanden, der dich wegführt, weil das Parallelleben schön, aber nicht real ist. Jemanden, der dich daran erinnert, dass es in Ordnung ist, gelegentlich Trost zu suchen, solange es nicht zulasten deines echten Lebens geht. Bei einem Verlust sind es manchmal gerade die Menschen, die wir verloren haben, die aus ihrem ungelebten Leben heraus neben uns hocken, wenn wir verzweifelt sind, und uns sanft anstoßen: „Hey, ich möchte, dass du glücklich bist. Lebe weiter, für mich!“ Und manchmal bist du am Ende dieser Jemand.

Scheinwerferlicht
Wie oft beleuchtest du dein Traumleben? Foto: canva.com

Der Scheinwerfer

Sich vorzustellen, wie alles anders gelaufen wäre, wenn du etwas anderes getan hättest, und wie du es machen würdest, wenn du neu anfangen könntest, ja, das macht Spaß, darüber zu fantasieren. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem du erkennst, dass das einfach nicht möglich ist. Du hast die Entscheidungen getroffen, die du getroffen hast, und entweder du lebst damit, oder du verbringst den Rest deines Lebens mit Bedauern. Letzteres ist auch eine Entscheidung, aber es wäre schade – und auch ein bisschen unfair. Immer die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben, ja, das wünschen wir uns alle, aber im Nachhinein ist es leicht, so zu sprechen. Wir stürzen durch die Zeit vorwärts, werden in den Scheinwerfer geschoben, ohne unsere Rolle proben zu können, und uns improvisierend überhaupt über Wasser zu halten, ist schon eine Leistung. Jede große Entscheidung, die du getroffen hast, ist im besten Fall eine, über die du im Nachhinein froh bist, weil es gut lief, und sonst eine, mit der du irgendwann deinen Frieden machst, weil du verstehst, warum du dich damals so entschieden hast. Aber wie lebt man damit? Indem man es akzeptiert? Ja, aber auch, indem man sich nicht davor verschließt.

Sieh dein Traumleben als Geschenk statt Bürde!

Dein Leben ist eine Symphonie mit einer Melodielinie, und wenn du genau hinhörst, kannst du im Hintergrund die Stimmen der ungelebten Leben hören. Du bist der Dirigent, der bestimmt, wie laut oder leise sie erklingen. Diese ungelebten Leben sind Psychologie, sie gehören zu dir, sie ergänzen dich, deine Wünsche und Sehnsüchte – das ist, wer du bist. Eigentlich ist es ein Geschenk: Du hast nur ein Leben, kannst dir aber mühelos noch ein paar dazu erträumen. In meinen Träumen bin ich… vervollständige den Satz. Das ist nicht falsch, sondern schön! Und warum nicht einen kleinen Teil davon Wirklichkeit werden lassen? Vielleicht bin ich keine Auslandskorrespondentin geworden, aber ich kann neue Sprachen lernen, fremdsprachige Bücher lesen und weiterträumen – vielleicht kommt es ja doch irgendwann dazu. Deine Traumleben können dir zeigen, was du brauchst, um glücklich zu sein. Also warum nicht dein Traumleben manifestieren.

  • Du bist nicht mit einem Förster verheiratet, aber du kannst die Natur lieben und dich davon inspirieren lassen.

  • Vielleicht hast du nicht sieben Kinder bekommen, aber du kannst dein Zuhause mit den Stimmen der Menschen füllen, die zum Übernachten, Essen oder Filme schauen kommen.

  • Und dass du jemanden immer noch lieben kannst, der nicht mehr da ist, ist ein tröstlicher Gedanke. Besonders, wenn andere dasselbe empfinden – gemeinsam jemanden vermissen, das ist wie ein Spiegelbild des ungelebten Lebens, bei dem es so scheint, als wäre diese Person wirklich noch bei dir.

„Träume nicht dein Leben, leben deinen Traum.“
Tommaso Campanelle, Philosoph

Zusammen fantasieren

Vielleicht sollten wir uns öfter über unsere ungelebten Leben austauschen. Gerade das Kennen des Schattendaseins des anderen lässt uns einander näherkommen. Gemeinsam in den Spiegel von Nerhegeb blicken und erzählen, was wir darin sehen. Darüber sprechen. Vielleicht sogar zusammen darüber fantasieren. Nicht mit Bedauern, höchstens mit einem Hauch von Wehmut. Und dann auf die Menschen anstoßen, die wir sind. Vergiss nicht: Dein gelebtes Leben ist es, das all diese ungelebten Leben erst ermöglicht. Deine Eltern, die sich zufällig trafen, ihre Eltern, jene eine Eizelle. All diese parallelen Leben seit der Urgeschichte, die sich nur knapp verpassten, all die möglichen Leben, durch die du fast nicht existiert hättest. Fast hätten wir in einer anderen Welt gelebt. Und nein, du wärst dann nicht jemand anders gewesen. Du wärst gar nicht auf der Welt gewesen. Zu ihrem 75. Geburtstag schenkte sich meine Tante eine Reise und nahm mich, ihr Patenkind, mit. Schau, da fuhren wir mit der Metro durch Moskau, gingen auf der Arbatstraße essen, standen auf einer Brücke und blickten auf die Newa. Wir saßen im Nachtzug zwischen Moskau und Sankt Petersburg und tranken Wodka, während Russland draußen am dunklen Fenster vorbeizog. Und irgendwo im Hintergrund waren unsere ungelebten Leben so nah, dass wir sie fast berühren konnten.

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