Das Mysterium der Familienseele

Deine Familie unterstützt dich durch dick und dünn; Familie und Zusammenhalt ist eine Art Naturgesetz. In der Praxis ist das leider nicht immer wahr. Aber Familiengefühle gehen unermesslich tief. Es gibt eine Art unzerbrechliche Loyalität gegenüber den Menschen, bei denen du aufgewachsen bist, egal was passiert. Wir haben unendlich viel für unsere Familie übrig. Vielleicht bist du anders als die anderen, vielleicht bist du ausgebrochen, deinen eigenen Weg gegangen, hast andere Normen und Werte gefunden, die besser zu dir passen als die, mit denen du aufgewachsen bist – doch dieses Gefühl der Verbundenheit bleibt trotz allem anderen bestehen. Deine Familie ist eine Quelle der Kraft und Inspiration, von Wärme, Sicherheit und Harmonie. Du kannst noch so eine unabhängige Karriereperson sein, wenn du nach Hause kommst, zu deiner Familie, fällt alles von dir ab. Du fühlst dich wieder aufgenommen und gesehen, wie du bist: einfach das kleine Schwesterchen mit ihrem ganz eigenen Platz im großen Ganzen...

Dass es auch eine negative Seite gibt, wissen wir alle. Deine Familie ist deine erste Hülle, wenn du auf die Welt kommst, deine erste Liebeserfahrung, aber auch deine erste Quelle des Schmerzes. Warte, bis du Weihnachten nach Hause fährst – das ist ein Scherz, der in Therapeutenkreisen und Wachstumsgruppen die Runde macht. Vielleicht fühlst du dich überhaupt nicht als das geliebte Mädchen, sondern als das naive Nesthäkchen, über das jeder Witze macht, genau wie früher. Oder die verantwortliche ältere Schwester, die eigentlich dafür sorgen sollte, dass jeder glücklich ist. Und obwohl du in innerer Ruhe am Weihnachtstisch Platz genommen hast, bist du bis zum Zeitpunkt, wenn das Dessert serviert wird, aufgeregt und gereizt – vielleicht weißt du nicht einmal genau, durch wen oder was. „Jeder hat eine Antenne für das Gefühlsfeld der Familie. Auf einem Familienfest fällst du sofort auf deinen alten Platz zurück“, sagt die Beraterin und Familienaufstellerin Elly te Brake. „Das Schöne ist die Vertrautheit und die Wiedererkennung. Aber manchmal ist es, als wäre dein Familienmantel zu klein geworden – und doch verharrst du in diesem engen Mantel. Es sind neurologische Pfade in deinem Gehirn, die so tief ausgetreten sind, dass sie zu vierspurigen Autobahnen geworden sind. Wenn du es anders machen willst, musst du deinen eigenen Pfad im Dschungel des Neuen schlagen. Das ist eine Menge Arbeit.“

„Um Weihnachten herum habe ich mehr zu tun als ein Geflügelhändler“, scherzt die Familientherapeutin Else-Marie van den Eerenbeemt. „Manchmal bekomme ich schon Ende August Klienten, die voller Sorge auf Weihnachten blicken. Beispielsweise weil deren Eltern geschieden sind; wenn sie Weihnachten zur Mutter geht, ist der Vater verärgert und umgekehrt. Am liebsten möchten sie niemanden mehr sehen und der ganzen Familie den Rücken kehren. Aber das hat auch Konsequenzen. Nichts zu tun ist gefährlicher als etwas zu tun, sage ich immer. Weihnachten ist ein Fest, an dem man Erinnerungen aufleben lässt, und diese sind durch die Familie gefärbt. Ich kenne zwei Frauen, die beide ihre Familie verlassen haben und zusammen weggingen und dann heftigen Streit über ihre Familien hatten. Denn niemand darf deine Familie beleidigen, außer dir selbst. Mein Rat ist, einen Kompromiss zu schließen: vielleicht kannst du Silvester mit deiner Mutter feiern oder sie das Wochenende vor Weihnachten einladen.“ Van den Eerenbeemt nennt das „Seinsloyalität“: diese starke Bindung an die Familie. Oder wie Marc Chagall sagte: „Ich ­trage immer die Landschaft meiner Eltern in meiner Seele.“

Wenn du mit deiner Familie brichst, wirkt sich das auf deine anderen Beziehungen aus: diese müssen dann gutmachen, was schiefgelaufen ist. „Von deiner Familie bekommst du eine Aufgabe mit“, sagt Familientherapeutin van den Eerenbeemt. Diese kann positiv sein: „Wir sind sozial, wir teilen.“  Oder auch negativ: „Bei uns wir geschwiegen statt gestritten“. Dann musst du herausfinden, was zu dir passt und was nicht. „Als ob du dein ganzes geistiges und emotionales Erbe durch ein Sieb fallen lässt. Was kostbar ist für dich, bleibt auf dem Sieb liegen.“ Als Mitglied einer Familie bist du nicht nur Empfänger:in, sondern auch Übermittler:in: was du in deinem Sieb hast liegen lassen an Kostbarkeiten, das gibst du an deine Kinder und Enkelkinder weiter.

Der niederländische Coach und Autor Daan van Kampenhout kombiniert Schamanismus und Familienaufstellungen – eine Form der Therapie, bei der zufällige Menschen Familienmitglieder darstellen – in einer Methode, die er selbst entwickelt hat: „Systemic Ritual“. Laut ihm bist du nicht nur Teil der Familienseele, sondern auch einer kollektiven Seele oder Stammesseele und letztendlich einer universellen Seele. Dazwischen befindet sich noch deine eigene, individuelle Seele. Er ist überzeugt, dass es eine Entwicklung gibt, die man sich als ein Rad vorstellen kann. „Jedes Baby wird aus der universellen Seele geboren“, erklärt er. „In totaler Offenheit und ohne Urteil. Aber du landest bei einem Elternpaar und dann geht diese ursprüngliche Unbefangenheit verloren. Du lernst Normen und Werte, dass dies nicht erlaubt und jenes normal ist, dass Eichenholzstühle altmodisch sind und Samtvorhänge falsch... Aber das ist auch notwendig: du brauchst Struktur, um funktionieren zu können, und es ist die Aufgabe der Eltern, die Formlosigkeit des Babys in Form zu verwandeln.

Wenn du in die Welt hinausgehst, wird die Begrenzung von früher ein überflüssiger Kokon, den du abschüttelst. Freund:innen von dir haben vielleicht Eichenholzstühle und diese stellen sich als prima heraus. Die Funktion der Familienseele entfällt, du wirst Teil einer anderen Gemeinschaft und damit tritt die Gruppenseele in dein Leben. In der Regel bist du Teil verschiedener Gruppenseelen: die deiner Kolleg:innen beispielsweise, deiner spirituellen Gruppe, aber auch die deiner Nationalität, deines Geschlechts. Eine kollektive Seele gibt Kraft, schließt aber andere Gruppen aus, weil diese anders sind. Du entwickelst dich von der Teilnahme an der Familienseele zur Teilnahme an einer Gruppenseele, und von dort aus zu einer individuellen Seele. Das tust du, indem du deinen inneren Raum vergrößerst, indem du geistig unabhängig wirst. Selbst wenn du Teil von Gemeinschaften bleibst, durchschaust du ihre Begrenzung. Nur als Individuum kannst du letztendlich in die universelle Seele gelangen, den Ort, an dem du die Einheit allen Lebens spürst, wo Spannungen sich auflösen und Raum und Ruhe herrschen. „Aber“, sagt Daan van Kampenhout, „diese universelle Seele zu erfahren ist nur möglich, wenn du die Identifikation mit der Welt und deinem eigenen begrenzten Selbst für einen Moment loslassen kannst.“

Kann man die Familienseele wahrnehmen? Ja, sagt Familienaufstellerin Elly te Brake. „Den Wind selbst siehst du nicht, aber du siehst, wie das Gras sich bewegt. So ist es auch mit der Familienseele. Es ist etwas Unsichtbares, aber die Auswirkungen davon kann man wahrnehmen.“ Familienaufstellungen nennt sie ein „Klopfen an die Tür der Familienseele“. Die Vertreter:innen werden wie das Gras, das bewegt wird; sie fühlen das Unbewusste der Familienseele. Denn Familien haben, genau wie Personen, ein „Bewusstes“ und ein „Unbewusstes“. Alles, was zu schwierig ist, worüber nicht gesprochen werden kann, was zu sehr schmerzt oder wofür man sich schämt – ein Selbstmord, eine Geisteskrankheit, ein schwarzes Schaf – verschwindet ins Unbewusste. Aber es will doch da sein und deshalb taucht es oft in späteren Generationen auf, in Form von unerklärlichen Verhaltensmustern. „Du bist sehr empfindlich für die Familienseele und das Leiden früherer Generationen“, erklärt Elly. „Du resonierst damit, du nimmst es auf dich, in der Hoffnung, dass du das Problem lösen, heilen kannst.“ Das ist auch, was du unter der Oberfläche spürst, wenn du im Schoß der Familie bist, und was die unbehaglichen Gefühle erklärt. So kannst du herausfinden, dass du immer wieder Probleme in deinen Liebesbeziehungen hast, weil deine Mutter und deine Großmutter und deine Urgroßmutter das auch hatten. Oder du kannst überhaupt nicht mit Geld umgehen und entdeckst, dass du dich unbewusst mit einem Großvater identifiziert hast, der bankrott ging. Ist eine solche Wunde in der Familienseele heilbar? Kannst du etwas für deine Familie bedeuten?

„Du kannst nicht alleine das gesamte Familiensystem verändern“, sagt Daan van Kampenhout. „Aber du kannst einen positiven Beitrag leisten. Du kannst die Familienseele heiler machen, indem du dir die Geschichten ansiehst, vor denen jeder weggeschaut hat. Vielleicht gab es ein Opfer von jemandem, das nicht gesehen wurde. Oder es gibt etwas, das nicht  verarbeitet wurde.“ Dafür ist eine Familienaufstellung eine gute Form der Therapie. Aber auch zu Hause kannst du viel tun. In vielen alten Kulturen verehren Menschen ihre Vorfahr:innen. Sie haben einen Hausaltar mit Figuren und geben diesen manchmal sogar Essen und Trinken. Sie bitten ihre Vorfahr:innen um Hilfe bei Krankheiten und Problemen. Laut Daan van Kampenhout gibt es zwei Arten von Vorfahr:innen:

1. Deine Eltern, die dich aufgezogen haben, Großeltern und Familienmitglieder, die dich stark beeinflussen, mit denen du dich identifizierst und von denen du Charakterzüge übernommen hast. Sie sind diejenigen, die deine Persönlichkeit formen, deine Emotionen, die Sprache, die du sprichst, und deine unbewussten Antriebe.

2. Doch dahinter stehen noch andere Vorfahr:innen, die du nicht einmal gekannt hast. Nach der schamanistischen Tradition kannst du dich gerade an diese wenden, um deine innere Kraft zu verstärken. „Du kannst immer um Hilfe und Kraft und Gesundheit für deine Familienmitglieder bitten“, sagt Daan. „Du kannst jeden in dein Gebet einbeziehen. Das bedeutet nicht, dass du diese Menschen verändern willst, aber dass du jedem das Beste wünschst. Das öffnet bereits etwas.“

Natürlich kann man nicht eindeutig sagen, dass es nur durch dieses Ritual passiert ist, aber sicher ist: das Ritual fokussiert die Energie oder die Aufmerksamkeit auf etwas. Oder du gibst dich der Vorstellung hin: die Vorfahren waren aktiviert und gaben Kraft an die Familienseele. Das hilft, alle Faktoren optimal zusammenwirken zu lassen. Die Familienseele erstreckt sich in die Vergangenheit zu deinen Vorfahr:innen und in die Zukunft über deine Kinder. Du bist das Bindeglied zwischen dem, was war, und dem, was kommt. Mit deiner Wärme, deiner Liebe und deiner inspirierten Kraft kannst du einen Beitrag zur Familienseele leisten.

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