Wie Stille uns Momente der Vollkommenheit schenkt

Wenn der Winter sein weißes Tuch über die Welt spannt und jeder Schritt von Frost und Laub gedämpft wird, empfangen wir einen ganz besonderen Gast: die Stille. Wir lauschen ihr beim Spaziergang im Wald; hören, wie die Zweige leise knacken, Tiere im Unterholz rumoren und aus der Ferne ein Vogel zwitschert. Wir nehmen unseren Atem wahr. Und den Schlag des Herzens.

Winterlandschaft
In der Stille finden wir zu uns selbst und können der Stimme unseres Herzens lauschen. Nehmen wir uns in diesen Herbsttagen die Zeit dazu. Foto: Adobe Stock

Denn auch die Stille hat eine Stimme. Zart und sanft erklingt sie – und doch gut zu vernehmen, wenn wir uns ihr öffnen. So wie es Mönche des Kartäuserordens seit 1084 nach Christus in Grenoble tun. Umgeben vom Felsmassiv der französischen Alpen leben sie schweigsam. Kommunizieren einzig über einen Zettelkasten, in dem jeder Mönch Nachrichten hinterlassen kann. Nur der wöchentliche Spaziergang sowie Sonn- und Feiertage brechen das Schweigen. Stille erleben, heißt still werden.

Stille ist Gegenwart

Der Philosoph und Dichter Khalil Gibran formulierte es einst so: „Solange deine Gedanken keine Wurzeln in deinem Herzen finden, neigen sie dazu, die ganze Zeit in deinem Mund zu bleiben.“

Und so wählen die Mönche jeden Tag aufs Neue die Stille und damit eine Zeit, in der die Vergangenheit unwichtig wird und die Zukunft keinerlei Bedeutung hat. Was entsteht, ist reine Gegenwart. Denn Stille ist Präsenz. In ihr suchen die Mönche das Göttliche, spüren Vollkommenheit. Dazu passt auch folgende kleine Geschichte:

Zu einem Einsiedler kamen eines Tages Menschen. Sie fragten ihn: „Welchen Sinn siehst du in einem Leben der Stille?“ Er war gerade mit dem Schöpfen von Wasser aus einer tiefen Zisterne beschäftigt. „Schaut in den Brunnen, was seht ihr?“, fragte er. Die Besucher: „Wir sehen nichts.“ Nach einer Weile forderte der Einsiedler sie erneut auf: „Schaut hinein, was seht ihr?“ Sie blickten hinunter und sagten: „Jetzt sehen wir uns selbst.“ Der Einsiedler sprach: „Als ich vorhin Wasser schöpfte, war das Wasser unruhig, und ihr konntet nichts sehen. Jetzt ist das Wasser ruhig und ihr erkennt euch selbst. Das ist die Erfahrung der Stille."

Die Kunst des edlen Schweigens

Den Mönchen gestattet das Fehlen von Gesprächen, zu erahnen, was jenseits und tief in ihnen selbst verborgen ist. Täglich. In jeder Minute. Mit jedem Atemzug. Sie lauschen nur der sanften Stimme der Stille – wie auch wir es in diesen Tagen tun können. Diese kann ein feines Wispern sein, dass unserem Herzen entspringt. Eine Eingebung, die wir jetzt empfangen. Oder wir hören dem Plätschern eines Baches, den Tieren im Wald und dem Knacken der Zweige unter unseren Füßen zu. Denn die Stimme der Stille ist vielfältig, sanft und leise. Und doch erzählt sie uns von jenem, was unser Herz bewegt oder um uns herum geschieht – an diesen edlen Wintertagen.

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