Rumi: „Ich bin Wind, du bist Feuer“
Der persische Sufi-Dichter Rumi (1207–1273) besang stets den Geliebten. Damit meinte er keine bestimmte Person, sondern den Schöpfer selbst. Seine Worte drücken die Sehnsucht nach Liebe in ihrer höchsten Form aus – und öffnen uns bis heute das Tor zu etwas Elementarem.
Rumis erste Begegnung mit dem Schams
Die Frage ist eine Frechheit; blasphemisch geradezu. Insbesondere, da sie aus dem Munde dieses wilden, ungezügelten Mannes stammt, der sie ausgerechnet an einen der höchsten Bürger Konyas richtet: „Sagt mir“, ruft er vorlaut, „wer ist größer – der Prophet Mohammed oder der berauschte Sufi-Meister Bayazid Bistami?“ Empört antwortet der Herr, natürlich sei Mohammed der Größere von beiden, woraufhin der andere mit listigem Lächeln erwidert: „Mohammed sagt, er bitte Gott jeden Tag 70 Mal um Vergebung. Bayazid aber sagt, in seinem Umhang befinde sich nichts anderes als Gott allein. Und – wie lautet eure Antwort nun …?“ Fast 16 Jahre soll Schams-e Tabrizi gewartet haben, um diese Frage an eben jenen Mann zu richten, der sie so missbilligend beantwortet – es ist eine Prüfung, denn der berüchtigte alte Wanderderwisch, von dem es heißt, er sei sogar in die mystischen Geheimnisse des Alten Ägyptens eingeweiht, ist auf der Suche nach seinem letzten Schüler. Einem Meister-Schüler, in dem das große Gedankengut, das philosophische und religiöse Wissen von Jahrhunderten zusammenfließen soll. Der Mann, den er erwählt hat, scheint eine eigenwillige Wahl: Er stammt aus bester Familie, ist hochgebildet, vermögend. Ein nüchterner, beherrschter Rechtsgelehrter und Theologe, der selbst den Emir Konyas zu seinen Anhängern zählt; ein Mann, dessen Verstand spricht. „Ich war den Büchern verfallen“, wird dieser Dschalal ad-Din Muhammad Rumi später schreiben. „Stets saß ich an der Seite von Literaten und Gelehrten. Doch als ich den Menschen sah, der den göttlichen Liebeswein ausschenkt, wurde ich trunken, zerbrach alle Stifte. Nichts geht mir über deinen Geist. Lebe ich ohne dich, so verbrennt meine Seele.“
Rumis Werdegang
Geboren am 30. September 1207 im heutigen Afghanistan, wurde Rumi schon früh geprägt von verschiedenen philosophischen und spirituellen Schulen: Sein Vater galt als einer der renommiertesten Gelehrten der damaligen Zeit; später soll Rumi von Ibn Arabi, einem der bedeutendsten Sufi-Meister und bekennendem Advokaten religiöser Toleranz unterrichtet worden sein. Er ist vertraut mit Denkansätzen aus Schamanentum, Hinduismus, Buddhismus und Christentum. Durch die Begegnung mit Schams-e Tabrizi aber wird er in ein Wissen eingeweiht, das alles übersteigt, was er zuvor kannte. Über zwei Jahre lang befeuern und inspirieren sich die beiden Männer, die gegensätzlicher kaum sein könnten, stacheln sich zum Höchsten an. Ihre Verbindung ist erst ein Skandal und schließlich eine Tragödie – und legt doch den Grundstein für einige der schönsten und berührendsten literarischen Werke aller Zeiten: die Gedichte Rumis, die erst durch diese Liebe ihren intensiven Ausdruck erreichen. „Kaum ein Werk der persischen und türkischen Literatur ist ohne Rumis Einfluss denkbar“, resümierte die Islamforscherin Annemarie Schimmel. Und bereits Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall bemerkte 1818 in seiner „Geschichte der schönen Redekünste Persiens“ über Rumis Zitate und Gedichte: „Er schwingt sich nicht wie andere lyrische Dichter bloß über Sonnen und Monden, sondern über Zeit und Raum, über die Schöpfung und das Los, über den Urvertrag der Vorherbestimmung und über den Spruch des Weltengerichts in die Unendlichkeit hinaus, wo er mit dem ewigen Wesen als ewig Anbetender und mit der unendlichen Liebe als unendlich Liebender in eines verschmilzt.“
Rumi und sein Schams
Zunächst allerdings ist die Gesellschaft Konyas – schockiert! Eng, viel zu eng erscheint die plötzlich entfachte Beziehung zwischen Rumi und Schams. Es heißt, beide ziehen sich nach ihrer ersten Begegnung gemeinsam viele Monate hinter verschlossene Türen zurück zwecks stiller Einkehr und Zwiesprache. Rumi, der geliebte, geachtete, verehrte Meister lässt alles stehen und liegen; er vernachlässigt seine Pflichten, seine Familie, seine Freude und Schüler – für einen gemeinen Wanderderwisch, dessen Einfluss den Menschen der Stadt bald suspekt ist. „Als Rumi Schams‘ Gesicht erblickte, erschlossen sich ihm Geheimnisse so klar wie der Tag“, beschreibt Rumis Sohn Sultan Walad die Macht dieser Verbindung später in seinem Werk „Ibtidaname“. „Er sah bis dahin Ungesehenes, hörte, was niemand zu hören vermochte. Er verliebte sich in ihn, verließ die Gemeinschaft. Der Schatten Rumis verschwand in seinem Glanz. Er verschmolz lautlos jenseits der Welt der Liebe. Der große Meister Rumi lernte neue Dinge, nahm jeden Tag Unterricht. Bereits einmal auf der Stufe der Weisheit angelangt, begann er nun wieder von vorn. Das Wissen, das Schams ihm eröffnete, war völlig neu. Auf dem Weg der Herzen erreichte er das Herz der Herzen. Und Schams von Tabriz wurde sein Führer.“
Von der Musik der Worte
Tatsächlich vereinen sich durch die Lehre des Schams-e Tabrizi in Rumi schließlich die drei wesentlichen Strömungen der orientalischen Mystik und bilden ein neues Ganzes, etwas, das alles übersteigt. „Zuvor hatte Rumi zweifellos Interesse am Sufismus gezeigt, lebte jedoch wie ein gewöhnlicher Theologe“, schreibt Annemarie Schimmel. „Erst die Begegnung mit Schams riss die Mauern nieder, die das Meer des Ichs begrenzen, und Rumi begann, wie ein grenzenloser Ozean der Liebe und des Glaubens zu fließen.“ Durch Rumi gewinnt das Sufitum später ein Gleichgewicht zwischen Abgewandtheit durch einsame Meditation und Sema, der musikalischen Zusammenkunft, um der spirituellen Seite des Lebens zu huldigen. „Rumi kann als Begründer eines neuen Sufi-Stils betrachtet werden, in welchem Musik in einer sehr ausgeformten und subtilen Art als spirituelles Schulungsmittel verwendet wird“, sagt der Rumiforscher und Sufimeister Dr. Seyed Mostafa Azmayesh. Tatsächlich gelingt es Rumi mit Sprüchen und Gedichten, diese Musik, die weit mehr ist als nur Klang, nämlich die Versunkenheit in Gott selbst, in Worte zu fassen, und wer seine Zeilen liest, spürt diese Trunkenheit vor Liebe; hört die Melodie der Worte, die tanzend und wirbelnd ihre Spur im Herzen hinterlassen.
Rumis Tragödie: Das Verschwinden des Schams
Die Beziehung zu Schams-e Tabrizi dauert knapp zwei Jahre. Dann, von einem Tag auf den anderen, verschwindet der Meister. Die Stadt munkelt von Mord – angeblich soll Rumis jüngster Sohn, angestachelt von Neidern, den Wanderderwisch getötet haben. Andere glauben, er sei einfach weitergezogen ohne ein Wort des Abschieds, wie es eben seine Art war. Rumi ist am Boden zerstört – er entsendet Suchtrupps bis nach Damaskus, stellt eine hohe Belohnung in Aussicht für jeden, der ihm Schams zurückbringt, doch vergebens. Und schließlich, im Tal seiner Trauer, erkennt er, dass er schon lange eins ist mit seinem Meister. So beginnt Rumi, Gedichte zu schreiben, wie er sie nie zuvor geschrieben hat; Zeilen, gespeist aus einer Quelle, zu der er erst jetzt Zugang findet, denn er schreibt für Schams, unterzeichnet eines seiner großen Werke gar in dessen Namen: den „Diwan-e Schams-e Tabrizi“. Und in diesen Werken gelingt Rumi das, was keinem vor ihm jemals auf so meisterhafte Weise gelang: Er verwebt Reim und Rhythmus so gekonnt, dass seine Verse eine ganz eigene Kraft und Musikalität gewinnen; durch Wortspiele und Dopplungen entstehen immer neue Bilder, die seinen Worten ganz neue Ebenen verleihen. „In diesen Zeilen trägt Rumi seinem Meister seine Liebe als irdisches Vorbild der Vollkommenheit Gottes an“, so die Rumi-Expertin Farifteh Tavakoli. „Damit hat er gewissermaßen eine mystische Erfüllung der Gottesliebe auf irdischem Boden erfahren.“ Tatsächlich kann das Werk Dschalal ad-Din Rumis aufgefasst werden als ständiger Versuch, sich Gott zu nähern. Er setzt den Funken frei, der hinter der äußeren Form verborgen ist, und so ist nichts zu klein für ihn, um das Wunder der göttlichen Liebe und die Macht des ewigen Geliebten zu symbolisieren. „Überall sieht Rumi Spuren des göttlichen Wirkens“, ergänzt Annemarie Schimmel. „Durch die Liebe wird die Welt für ihn zu einer einzigen Epiphanie, weil er sieht, dass alles und jedes seine Herrlichkeit, wenn auch nur im winzigsten Fragment widerspiegelt.“ Und so ist genau das der ewige Zauber, der in den Worten und Zitaten Rumis mitschwingt: Er rührt an das Elementare des Menschlichen; die Suche nach dem Sinn. Und er beantwortet alle Fragen mit einer einzigen Zeile: „Ich kann dir alle Rätsel dieser Schöpfung lösen, denn aller Rätsel Lösungswort ist eines: Liebe.“
5 bedeutende Rumi-Zitate über das Leben und die Liebe
Bei seinem Tod im Jahre 1273 hinterlässt Rumi das 26000 Verse umfassende mystische Lehrgedicht Masnawi, dazu 36 000 Verse Poesie, eine Sammlung von Prosaschriften, Predigten und etliche Briefe. Diese fünf Rumi-Zitate wollen wir dir mit auf den Weg geben:
„Alles, was du sehen kannst, hat seine Wurzeln in der
Unsichtbaren Welt. Es mögen sich die Formen ändern,
das Wesen bleibt dasselbe.“
„Je mehr ich das Schicksal betrachte – alles heute bist
Du, alles morgen, Du.“
„Dies ist der Liebenden Rat; lass ihn das Herz dir
berühren: Liebe schweigend, denn still sagt ihr
Geheimstes die Welt.“
„Deine Aufgabe ist nicht, die Liebe zu suchen,
sondern nur all die Hindernisse in dir zu suchen und
zu finden, die du dagegen aufgebaut hast.“
„Es ist dein Weg – manche können ihn mit dir gehen,
aber keiner kann ihn für dich gehen.“