Die Vagina als Pforte zur Erleuchtung
Die Vagina ist bis heute ein Mysterium. Wie sieht sie aus? Warum finden wir keine Worte für sie? Und warum wird sie so ungern gezeigt? Zusammen wagen wir einen Blick in verborgene Tiefen.
Die sagenumwobene Vagina
Die Vagina: In der chinesischen Philosophie des Tao wird sie als „Goldener Lotus“ bezeichnet. Im indischen Tantra ist sie die Pforte zur Erleuchtung. Für den Psychoanalytiker Sigmund Freud war sie „der letzte dunkle Kontinent“ und eine Art Prüfstelle für die Reife, genauer: ein Organ, das Frauen von Mädchen unterscheidet. Gemeinhin gilt sie als Zentrum der weiblichen Lust, als Teil der weiblichen Seele, als Metapher für das Leben. Welcher andere Körperteil – außer unserem Herzen – könnte solche Bilder oder Beschreibungen auf sich vereinen? Trotz alledem ist die Vagina der Teil des Körpers, über den nur verschämt oder gar nicht gesprochen wird. Rund 40 Prozent der Frauen im Alter von 16 bis 35 Jahren geben an, ihr Geschlechtsorgan nur zu umschreiben, beispielsweise mit den Worten „da unten“. Wohlgemerkt: Das sind die Jüngeren von uns. Da stellt sich doch die Frage: Warum fällt es uns leichter, über Jobprobleme zu reden als über ein Körperteil, der wie jeder andere zu uns gehört? Und wie konnte es dazu kommen, dass das Zentrum unserer Lust so in den Hintergrund unseres Bewusstsein gerückt ist? Was sagt das über uns aus – über unsere Weiblichkeit, über unsere Sinnlichkeit?
Die Vagina ist der Ursprung der Welt
In der chinesischen Philosophie gibt es das Prinzip von Yin und Yang. Yin steht für das weibliche Prinzip, Yang für das männliche. Jeder und jede von uns trägt beide Anteile in sich. Beide sind gleich wertvoll und notwendig, um ein ausgewogenes Ganzes zu erhalten. Das weibliche Prinzip steht für die Kraft der Natur, die Intuition, die Gefühle, die Kreativität und das Leben selbst. Das männliche Prinzip steht für den Verstand, die Vernunft, die Logik, die Objektivität und das Trennende. Es ist die männliche Energie, die uns hilft, unsere Welt zu verstehen. Das männliche Prinzip ist wichtig, um unser Leben zu strukturieren und zu ordnen. In einer Zeit, in der es mehr Ungewissheiten als Gewissheiten gibt und Angst und Unsicherheit zu bestimmenden Gefühlen geworden sind, suchen wir – fast reflexartig – Zuflucht in unseren männlichen Wesensanteilen. Sie helfen uns, mit Verstand an die Dinge des Alltags heranzugehen, Probleme mit Logik zu bewältigen und im Job unsere Interessen durchzusetzen. Doch wir zahlen einen hohen Preis dafür, wenn die männliche Energie, und damit die Außenorientierung, zu stark wird. Denn ohne es zu bemerken, entfernen wir uns damit mehr und mehr von unserer inneren Weiblichkeit. Und vergessen, dass die Vagina der Ursprung der Welt ist …
Vulva, Vagina – Was ist richtig?
Dabei hat das weibliche Geschlechtsorgan, das eine so große spirituelle Bedeutung hat, nicht einmal einen richtigen Namen, jedenfalls keinen, den schon Kinder lernen und Erwachsene noch gerne benutzen. Selbst die, die eine Vagina haben, finden keine passende Bezeichnung. Scheide, Muschi, Ritze, Pussy, Mumu – was sind das für Worte für den Körperteil, der unsere Weiblichkeit in sich trägt? Wenn wir es ganz genau nehmen, ist übrigens auch „Vagina“ nicht korrekt. Richtig wäre: Vulva. Der Unterschied zwischen Vagina und Vulva ist leicht erklärt: Dort, wo die Haut die Unterwäsche berührt, liegt die Vulva. Die Vagina liegt innen. Sie ist der muskuläre Schlauch, der von der Vaginalöffnung zum Gebärmutterhals führt. Er kann Penissen, Fingern oder Sex-Spielzeugen als Eingang und Babys bei der Geburt als Ausgang dienen. Und da sind wir auch schon mittendrin in der weiblichen Anatomie und allem, was Frauen darüber wissen oder eben nicht wissen.
Buchtipp über die Vagina
Die bekannte kanadische Gynäkologin und „New York Times“-Kolumnistin Dr. Jen Gunter hat in den USA, Kanada und Großbritannien die „Vagina-Bibel“ veröffentlicht. Seit Kurzem liegt auch die deutsche Übersetzung vor. Sie beantwortet darin ebenso einfache wie naheliegende Fragen, etwa: Was ist eine Vulva? Was ist der Aufbau einer Vagina? Welche Funktion hat das Schamhaar? Wozu haben wir ein Jungfernhäutchen? Oder: Schrumpft die Vagina, wenn man keinen Sex hat? Dr. Jen Gunter räumt mit Vorurteilen auf und erklärt medizinisch fundiert alles, wirklich alles, was man über das weibliche Geschlechtsteil wissen möchte. „Denn noch nie hat eine Frau davon profitiert, nichts über ihren Körper zu wissen“, sagt sie. Als Frauenärztin, die seit rund 25 Jahren praktiziert, kennt sie sämtliche Fragen, die Frauen stellen, aber auch die, die unterbleiben, weil die Betroffenen nicht genau wissen, wie sie sie formulieren sollen. Sagen Frauen „Die Vagina tut mir weh“, wenn sie eigentlich die Klitoriseichel meinen, ist das in etwa so, als würde man sich bei einer Augenentzündung über Halsweh beklagen. Also: Es ist schwierig, wenn wir Dinge nicht benennen können, sehr schwierig manchmal.
Ein Leben mit Vagina und ohne Scham gibt es nicht
Eines der größten und grundlegendsten Probleme ist tatsächlich die Scham. Ein Leben ohne Scham gab es einzig im Paradies, bevor Adam und Eva dazu verurteilt wurden, sich voreinander zu verhüllen. Seitdem definiert jede Gesellschaft ihre eigenen Vorstellungen von Schamhaftigkeit und deren Grenzen. Interessant: Der Fachausdruck für die äußeren Genitalien von Menschen aller Geschlechter ist Pudendum. Das Wort leitet sich vom lateinischen „pudere“ ab, was „sich schämen“ bedeutet. Verwendet wird das Wort jedoch fast ausschließlich in Bezug auf Frauen: Die „Terminologia Anatomica“, das international wichtigste Anatomielexikon, führte „Pudendum“ bis zum Jahr 2019 sogar als Synonym für „Vulva“. Bei Frauen spricht man vom Schamhügel, dem Schamdreieck, den Schamlippen oder einfach der Scham. Sich schämen – wofür? Bis ins 17. Jahrhundert hielt sich übrigens der aus der Antike stammende Aberglaube, die Leichen von ertrunkenen Frauen würden aufgrund einer naturgegebenen Schamhaftigkeit mit dem Gesicht nach unten treiben, um die Genitalien zu verbergen. Darauf muss man erst mal kommen. Tatsächlich ist es so: Scham macht sprachlos, Sprachlosigkeit verhindert Wissen. Was wir im Zusammenhang mit Vulva oder Vagina sagen oder nicht sagen, hat also einen immensen Einfluss darauf, wie wir und unsere Sexualität wahrgenommen werden. Und wie wir selbst uns wahrnehmen. Klar ist: Die Vagina ist die wohl physischste Manifestation von Weiblichkeit. Aber empfinden wir das tief in unserem Innern auch so?
Die Vagina in der Kunst: Letztlich geht es auch um Freiheit
Naomi Wolf, Autorin des Bestsellers „Vagina“ und Leitfigur des amerikanischen Feminismus, sagt: „Unsere Vagina fungiert als das Medium von weiblicher Selbsterkenntnis und Hoffnung, von Kreativität und Mut, von Konzentration und Initiative, und als Medium einer Sensibilität, die sich nach Freiheit anfühlt.“ Sie hat recht. Wenn es um die Vagina und um die weibliche Lust geht, geht es immer auch um Freiheit. Zum Beispiel auch um die Form von Freiheit, die die Kunst fordert. Die japanische Künstlerin Shigeko Kubota zeigte bereits 1965 ihre Performance „Vagina Painting“, in der sie einen Pinsel an ihrer Unterwäsche befestigte, diesen in einen Eimer roter Farbe tauchte und damit auf einem Papier rote Schlieren erzeugte, die an Menstruationsblut erinnerten. Eine Provokation, natürlich. Aber auch der Versuch, etwas zutiefst Natürliches ausdrücken. Die französischschweizerische Malerin und Bildhauerin Niki de Saint Phalle stellte 1966 im Moderna Museet in Stockholm „HON – en katedral „(„SIE – eine Kathedrale“) aus, eine raumgreifende Skulptur in Form eines Frauenkörpers, die über die Vulva und Vagina betreten werden konnte. In den 1990er-Jahren trugen die „Vagina-Monologe“, ein Theaterstück von Eve Ensler, wesentlich dazu bei, die weibliche Sexualität zum Thema des öffentlichen Diskurses und damit begreifbarer zu machen. Das Stück besteht aus Monologen, die von Frauen gelesen werden. Jeder einzelne befasst sich mit einem Aspekt der weiblichen Erfahrung, berührt Fragen wie Sex, Liebe, Vergewaltigung, Menstruation, Masturbation, Geburt, Orgasmus oder die verschiedenen gebräuchlichen Namen für die Vagina.
Warum lassen wir uns verunsichern?
Von diesen Vagina-Monologen inspiriert, veröffentlichte der Fotograf Philip Werner das Buch „101 Vagina“. Es enthält 101 Nacktfotos in Nahaufnahme, die auf nicht-provokative Weise aufgenommen wurden, zusammen mit einer begleitenden Geschichte, die von jeder Frau über ihre Vagina geschrieben wurde. Eine dieser 101 Frauen verrät, dass sie einem Jungen im Alter von 14 Jahren zum ersten Mal erlaubte, ihre Vagina zu sehen, woraufhin er „das Gerücht verbreitete, ich sei zu behaart“. Eine andere sagt: „Ich habe jahrelang keinem Mann gestattet, meine Vagina zu sehen. Ich dachte, sie sei zu groß und zu faltig.“ Eine andere berichtet, dass sie sich zu schämen begann, als sie zum ersten Mal über Sex mit ihrem Freund nachdachte: „Plötzlich hatte ich eine ganz neue Sichtweise auf meine Vagina – das kritische Auge war erwacht. Sie sah hässlicher und dunkler aus, und ich fand die kleinen Schamlippen zu groß. Ich quälte mich wahnsinnig damit herum.“ Zu dunkel, zu faltig, zu groß? Schweizer Forscher:innen haben die Vulven von 657 Frauen gemessen. Das wissenschaftliche Ergebnis deckt sich mit dem, was eigentlich auch jeder Gynäkologe zu berichten weiß: DIE eine „normale“ Vulva-Form gibt es nicht. Die in der Schweiz gemessenen Lippen waren zwischen 20 Millimeter und 18 Zentimeter lang. Einige waren hügelig, andere eben. Bei einigen waren die inneren Lippen kürzer als die äußeren, bei anderen war es umgekehrt. Einige hatten eine hellere Farbe, andere wirkten dunkler. Man kann sagen: So unterschiedlich wie die Gesichter der Frauen, so unterschiedlich waren die Geschlechtsteile. Warum haben wir also noch immer das Gefühl oder den Eindruck, es könnte so etwas wie eine Norm geben? Warum beschäftigen wir uns mit Größe und Farbe, wenn es doch darum geht, wie viel Lust der eigene Körper erleben kann? Man sagt, Sinnlichkeit sei die Eintrittskarte in den Garten der Gefühle. Haben wir das vergessen?
Verbindung mit der Vagina: Praktiziere die Lotusblume
Viele Frauen tragen eine große Verunsicherung in sich – und das unbestimmte Gefühl, nicht mit ihrer Weiblichkeit verbunden zu sein. Ein Schlüssel zu deren Wiederentdeckung könnte Embodiment (Verkörperung) sein. Ursprünglich eine Theorie aus der Psychologie und der Kognitionswissenschaft, geht es dabei um die Frage, wie Körper und Geist zusammenhängen. Dem Embodiment-Ansatz zufolge kann unser Äußeres – also Körperhaltung, Gestik und Mimik – unser inneres Wohlbefinden und unsere Stimmungen maßgeblich beeinflussen. Der Prozess funktioniert genauso in die andere Richtung: Wie wir uns innerlich fühlen, bestimmt unser Äußeres. Also: Die Psyche beeinflusst den Körper – und umgekehrt. Ziel des Feminine Embodiment ist es, verdrängte Persönlichkeitsanteile aufzuspüren und zu verkörpern, um als Frau wieder zur Ganzheit zurückzufinden. Das klingt recht theoretisch – wie kann man es praktisch erreichen?
Entschleunigung. Tue weniger, tue es langsamer, tue
es bewusster. Je weniger du dich ablenken lässt,
desto besser kommst du vom Verstand in den Körper
und desto lebendiger wirst du dich fühlen.
Umgib dich mit Frauen. Es ist leichter, die weibliche
Seite zu spüren, wenn wir unter uns sind und uns so
zeigen dürfen, wie wir sind.
Verbinde dich regelmäßig mit deinen Sinnen. Laufe
barfuß, tanze, höre dem Wind zu. Je stärker wir
unsere Sinne wahrnehmen, desto kraftvoller wirkt
unsere weibliche Energie.
Finde deine eigene Stimme. Etwa indem du ein Mantra
tönst. Das einfachste Mantra ist das Omm. Es
entspricht angeblich dem Urklang des Universums,
steht für die reinste Form der Energie und kann den
Geist und das Herz öffnen.
Spüre deine Selbstliebe. Eine wunderschöne Übung dafür ist die Lotusblume. Sie stammt aus
dem Yoga und hat in Indien eine wichtige und
tiefgreifende Bedeutung: Sie steht für Neuanfang,
Offenheit, Fülle. Du kannst die Übung im Sitzen oder
im Stehen durchführen, dein Rücken sollte aber in
jeder Haltung gerade sein, die Schultern entspannt.
Atme tief und bring deine Hände wie in der
Gebetshaltung vor dem Herzen zusammen,
Handfläche an Handfläche. Die Fingerspitzen der
Daumen und der kleinen Finger presst du mit etwas
Druck aufeinander, dann können sich die anderen
Finger und deine Handflächen öffnen. Dadurch
entsteht ein Kelch – eine offene Lotusblüte. Du
behältst sie für einige Atemzüge vor deinem Herzen
und lässt sie dann nach oben aufsteigen: Dazu hebst
du langsam deine Arme, bis sie ausgestreckt sind.
Wenn du magst, sage dabei: „Ich öffne mich Neuem
gegenüber“.
Die heilige Yoni
Yoni ist ein Wort aus dem Sanskrit. Es steht für Vagina, Vulva und Uterus, versteht das weibliche Genital somit als ganzheitlich, und wortwörtlich bedeutet es „heiliger Ort“, „Ursprung“ oder „Quelle“. Aus dem alten China kommt die Yoni-Ei-Praxis. Der Legende nach sollen die Konkubinen des Kaisers zur Stärkung des Beckenbodens und zur Selbstverzückung kleine Eier aus Jade in der Vagina getragen haben. Heute gibt es Yoni-Eier aus verschiedenen Halbedelsteinen, die Praxis ist die gleiche wie vor Jahrtausenden: Im Stehen oder im Liegen wird das Ei vorsichtig eingeführt. Schön ist es, sich dafür Zeit zu nehmen, denn es geht darum, sensibler zu werden, achtsam mit sich zu sein. Dann kann man mit dem Ei Yoga praktizieren, spazieren gehen, tanzen oder es auch nur im Liegen in sich spüren. Am Anfang reicht eine Übungszeit von 10 bis 20 Minuten. Durch die sanfte innere Massage wird der Beckenboden trainiert, werden Verspannungen gelöst, die Vagina wird noch empfindsamer. Viele Frauen erfahren, dass sie auf diese Weise eine stärkere Libido bekommen – oder sie nach langer Zeit wieder geweckt wird.