Bhagavad Gita: Der Gesang Gottes
Die Bhagavad Gita ist das bedeutendste spirituelle Werk des Hinduismus – entstanden vor rund 5000 Jahren. In ihr finden sich Antworten auf die grundlegenden Fragen des Lebens. Eine Annäherung an die mystischste Schrift Indiens …
Was ist die Bhagavad Gita?
Bitte, geliebter Freund, sag mir – was soll das Ganze eigentlich?“ Mit diesen Worten beginnt das, was der preußische Gelehrte Wilhelm von Humboldt ehrfurchtsvoll als „das schönste, ja vielleicht das einzig wahrhafte philosophische Gedicht“ bezeichnete – die Bhagavad Gita; eine der bedeutendsten Schriften des Hinduismus, deren Titel übersetzt bedeutet: „Gesang des Erhabenen“. Denn genau genommen ist die Gita genau das: Ein Gesang mit 700 Strophen, eingebettet in die philosophische und religiöse Gedankensammlung des „Epos Mahabharata“, eines der umfangreichsten literarischen Werke aller Zeiten. Die Gita selbst stellt das Herzstück dieser Sammlung dar – als sogenannte Offenbarungsschrift, von der es heißt, die Weisen hätten sie einst vom Göttlichen selbst empfangen. Bis heute gilt sie als das grundlegende mystisch-spirituelle Werk Indiens – kein anderer Text der Hindu-Literatur wird so viel gelesen, so oft auswendig gelernt, so häufig zitiert. „Wenn mir manchmal die Enttäuschung ins Antlitz starrt, wenn ich verlassen, keinen Lichtstrahl erblicke, greife ich zur Bhagavad Gita“, erzählte auch Mahatma Gandhi. „Dann finde ich hier und dort eine Strophe und beginne zu lächeln, inmitten aller Tragödien, und mein Leben ist voll von Tragödien gewesen. Wenn sie alle keine sichtbaren Wunden auf mir hinterlassen haben, verdanke ich dies den Lehren der Gita.“
Die Bhagavad Gita mahnt: „Behalte dein wahres inneres Selbst im Auge“
Im Vorwort zu seiner Übersetzung der Schrift schreibt Jack Hawley, ein langjähriger Schüler des indischen Gurus Sai Baba, sehr treffend:
„Die Bhagavad Gita zu lesen, heißt, sanft hin und her zu pendeln zwischen dem Kopf und dem Herzen, zwischen dem Weltlichen und dem Spirituellen. In diesem Pendeln von der menschlichen zur göttlichen Dimension unserer selbst liegt die geheime, durchdringende Kraft der Gita, ihre Fähigkeit, uns zu erheben und zu bewegen.“ Und weiter: „Die Gita zu lesen, heißt, inspiriert zu werden, im wahren Sinne dieses Ausdrucks; den Geist eingehaucht zu bekommen, den uralten und immer neuen Atem spiritueller Energie einzuatmen.“
Tatsächlich wird die Gita im „Epos Mahabharata“ eingeleitet mit diesen Worten: „Was hier gefunden wird, kann woanders auch gefunden werden. Was hier nicht gefunden werden kann, kann nirgends gefunden werden.“ Und so führt uns dieses Gedicht mit seinen 18 Gesängen zurück in das Jahr 3141 vor unserer Zeitrechnung: Im indischen Kurukshetra auf dem Feld Kurus stehen sich zwei Armeen gegenüber, bereit, in eine epische Schlacht zu ziehen. Wir stehen an der Seite des Helden Arjuna, begleiten ihn, als er mit seinem Streitwagen in die Mitte des Schlachtfelds fährt, um die Reihen seiner Gegner zu begutachten. Und dort erblickt er: seine Onkel, seine Lehrer, Freunde aus Kindertagen, die sich gegen ihn gewandt haben. Gramgebeugt und zweifelnd wendet er sich an seinen Wagenlenker, der zugleich sein bester Freund ist, und wir hören seine tränenerstickten Worte: „Weshalb tue ich das?“
Krishna – „der Dunkle“
Er ist eine hinduistische Form des Göttlichen und gilt als achter der zehn Avatare oder Manifestationen des höchsten Gottes Vishnu. Vishnu selbst ist Teil der Trimurti, der drei kosmischen Funktionen (Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung) – seine Aufgabe ist die Erhaltung der kosmologischen und menschlichen Ordnung, was nur gelingt, weil er fortwährend in unterschiedlichen Formen inkarniert. Als Gott Krishna ist sein größtes Verdienst das Verkünden der Bhagavad Gita.
„Alles, was lebt, lebt ewig“, weiß die Bhagavad Gita
Es ist die Frage aller Fragen; die Frage nach dem Sinn, dem Warum. Die Frage, die wir alle stellen – die Frage ohne Antwort. Hier aber ist es anders, denn Arjunas Freund ist kein Geringerer als Krishna selbst, der sich ihm nun wahrhaftig zu erkennen gibt als die Inkarnation des Höchsten. „Möchtest du das wirklich wissen?“, fragt er – und als Arjuna bejaht, beginnt er, ihn zu unterweisen in der göttlichen Wahrheit. Arjuna und auch wir – bekommt Antworten auf alle Fragen, die das Leben aufwirft. Gleich zu Beginn dieses Gesprächs erklärt der Krieger, er werde keinesfalls kämpfen; zu groß sei das Leid, das dadurch über die Familien käme. Krishna aber hält vehement dagegen: „Deine Worte mögen weise klingen, aber der wahrhaft Weise grämt sich weder um die Lebenden noch die Toten!“, erklärt er und fährt fort: „Nie gab es eine Zeit, wo ich oder du oder irgendeiner von diesen Königen und Soldaten dort nicht existierten – und nie wird es eine Zeit geben, wo wir aufhören zu existieren. Materielle Körper erscheinen und vergehen. Nicht aber der Atman, der ihnen innewohnt.“ Diese Lebenskraft, die Seele, so erläutert Krishna weiter, sei keinesfalls mit dem sterblichen Körper gleichzusetzen:
„Wirklich bedeutet das, was ewig ist, unveränderlich, unzerstörbar. Das Wirkliche hört nie auf zu sein. Lerne diese Wirklichkeit kennen. Sie durchdringt den gesamten Kosmos und ist unwandelbar. Keine Macht kann sie beeinflussen. Das wirkliche Selbst wurde daher nie geboren, noch wird es jemals sterben. Ob dein gegenwärtiger Schmerz und Kummer enden, hängt davon ab, wie gut du deine Unwissenheit über dein wahres inneres Selbst überwindest.“
Das Sein hat kein Nichtsein, das Nichtsein hat kein Sein – die Wahrheit dieser Worte wird als „Gita Samkhya“ bezeichnet und als eine der höchsten philosophischen Weisheiten der Bhagavad Gita betrachtet. Diese Passage ist vor allem des wegen bemerkenswert, weil sie auf den ersten Blick unserem Verständnis von Gerechtigkeit und Moral komplett zu widersprechen scheint – fordert Krishna unseren Helden doch ex plizit auf, in den Kampf zu ziehen, wissend, dass dadurch viele ihr Leben lassen werden. Auch an anderer Stelle betont er ausdrücklich: „Das Richtige nicht zu tun, wenn es erforderlich ist – das ist schlimmer, als das Falsche zu tun“ und meint: Es besteht eine unbedingte Notwendigkeit, unsere Aufgabe zu erfüllen. Arjuna, der geborene Krieger, so erklärt Krishna, muss die Pflicht des Kriegers erfüllen und in den Krieg ziehen: „Du kannst keinen größeren Schaden anrichten, als deiner inneren Wahrheit nicht zu folgen“, mahnt er. Tatsächlich ist die epische Schlacht der Gita symbolisch zu verstehen – nach verbreiteter Auffassung stellt Arjuna die menschliche Seele dar und das Schlachtfeld das Leben, in dem es gilt, unsere Schwächen, Anhaftungen und Begierden zu überwinden und zu besiegen, die hier unserem Helden gegenüber auftreten als Familie und Freunde. In diesem Kontext gewinnen Krishnas Worte eine tiefere Dimension, die weit über das eigentliche Wort hinausführt. Denn Angst, Zorn und Anhaftung, so erklärt der große Gott, seien die drei Grundübel, die den Geist am stärksten beflecken:
„Die Weisen erwarten nichts, erhoffen sich nichts, geben alles auf. Dem Aufgeben von Erwartungen folgt sofort Frieden. Den großen Krieg gewinnt man dadurch, dass man Schmerz und Freude, Nutzen und Schaden, Sieg und Niederlage in gleicher Weise annimmt.“
Vertraue der Bhagavad Gita: „Ich bin immerwährende Glückseligkeit“
Wie genau dieses scheinbar Unmögliche zu gelingen vermag – darin unterweist Krishna unseren Krieger sehr genau. Er rät: „Erstens, sei gänzlich dem göttlichen Herren hingegeben; zweitens, diene gläubig Gott; drittens, erkenne ständig ebendiesen Gott in allen Wesen und in allem, was du tust, denn die wahrhaft Weisen sehen in allem nur die Göttlichkeit.“
Diese Göttlichkeit, das Unveränderliche, Ewige – stellt in der Gita Krishna selbst dar. Im siebten Gesang erklärt er in einer der schönsten Strophen des gesamten Gedichts: „Ich bin das eigene Wesen von allem und jedem. In reinem Wasser bin ich der süße Geschmack. In der Sonne und dem Mond bin ich der Strahlenglanz. Im innersten Zentrum menschlicher Wesen lebe ich als Zeugungskraft und Mut. Ich bin die heilige Silbe Om, die das Göttliche bezeichnet, und ich bin deren im ganzen Universum vernommener Klang. Ich bin die heilige Gesinnung in spirituellen Übungen, die ihnen ihren Sinn verleiht – ich bin die Gottesliebe des Betenden, die Enthaltsamkeit des Asketen und die süße Empfindung der Mildtätigkeit im Geber. Ich bin die subtile Kraft der guten Taten. Ich bin der angeborene Drang, anderen zu helfen.“ Und genau das, die Essenz des Wirklichen, ist die Kraft, die allem innewohnt: „Gott ist nicht fern, sondern in dir, und ist dein Selbst“, sagt Krishna.
Tatsächlich gehe es vor allem darum, diese Essenz zu erkennen, sich ihr zu öffnen, sich ihr hinzugeben. Und zwar in den einfachen Dingen des Lebens: „Suche die Abgeschiedenheit, iss nur wenig“, rät der große Gott. „Führe ein einfaches, eigenverantwortliches Leben und halte dabei deine Gedanken, Äußerungen und Handlungen im Zaum. Wirf alle Ichbezogenheit, Gewaltsamkeit, Überheblichkeit, Begehrlichkeit, allen Zorn und alle Anhaftung von dir. Besitze sehr wenig und lege jedes ‚Mein‘ Gefühl ab. Sei liebenswürdig und verzeihe jeden dir zugefügten Schaden.“
Wichtig, so betont Krishna, ist es, nicht auf die Früchte unseres Tuns zu spekulieren, sondern dieses Tun ganz einfach deshalb auszuüben, weil es eben unsere Aufgabe ist – nicht mehr und nicht weniger. So fordert er Arjuna erneut auf, in den Kampf zu ziehen, seine Schlacht zu schlagen: „Mache dich nicht zum Sklaven von irgendjemandem oder irgendetwas“, mahnt er. „Wisse vielmehr, dass du der Atman bist, die jenseits all dessen liegende ewige Wahrheit. Folge dieser Wahrheit.“
Buchtipps zu Bhagavad Gita
„Bhagavad Gita – der Gesang Gottes“ – eine wunderbare zeitgemäße Version, übersetzt von Jack Hawley (Goldmann Verlag, ab 8,99 Euro)
„Die Essenz der Bhagavad Gita“ – ein weitere Perspektive auf das Werk von Bernd Helge Fritsch (BoD, ab 9,70 Euro)