Eine kleine Fabel aus Tibet
In den letzten Wochen im Dezember kommen wir langsam zur Ruhe, haben uns dem Rhythmus der kurzen Tage angepasst und finden Zeit zur inneren Einkehr. Jetzt ist der ideale Zeitpunkt, um in andere Welten einzutauchen, sich inspirieren zu lassen, zum Träumen und Nachdenken.
Die Autorin Ulli Olvedi nimmt uns dafür mit in ihre Lieblingswelt: den Fabeln aus Tibet. Sie verbrachte lange Zeit im Himalaya, lebte zurückgezogen in Klöstern und lernte dort nicht nur den tibetischen Buddhismus kennen, sondern auch die Märchen und Weisheiten der tibetischen Kultur. In ihrem neuesten Buch „Hinter den Schneebergen – Sagenhafte Geschichten aus dem alten Tibet“ nimmt sie uns mit auf eine Reise in diese Welt. Machen wir es uns bei einer Tasse Tee oder Kerzenschein gemütlich und träumen uns für einen kleinen Augenblick mit folgender Fabel aus ihrem Buch davon. Viel Vergnügen!
Vom Glück oder Unglück aus Tibet
Es war einmal ein Bauer, der in Tibet lebte und nur ein einziges Pferd besaß. Eines Tages lief dieses Pferd, von irgendetwas erschreckt, auf und davon und ward nicht mehr gesehen. „Oje, du Armer“, sagten die Nachbarn, „wo du doch nur dieses eine Pferd hattest. Was für ein Unglück.“ „Ob es ein Unglück ist“, antwortete der Bauer, „oder ein Glück, man weiß es nicht, man weiß es nicht.“Kurz darauf kam das Pferd zurück und sieben Wildpferde folgten ihm auf seine Koppel und blieben dort. „Das ist ja nicht zu fassen“, sagten die Nachbarn nicht ganz ohne Neid.
„Erst warst du so arm, hattest nicht mal ein Pferd, und jetzt hast du mehr Pferde als alle anderen im Dorf. Was für ein Glück.“ „Ob es ein Glück ist“, sagte der Bauer, „oder ein Unglück, man weiß es nicht, man weiß es nicht.“Der Bauer hatte einen einzigen Sohn, der beschloss, dass man die Wildpferde zureiten müsse, dann könne man eine Menge guter Waren dafür einhandeln. Obwohl die Nachbarn ihm rieten, damit noch zu warten, wenigstens so lange, bis die Pferde sich gut eingewöhnt hätten, ließ der Sohn sich nicht abhalten. Er war ein guter Reiter, aber er wurde abgeworfen und brach sich den Arm. „Oh, das ist schlimm“, sagten Nachbarn, „jetzt hat sich dein einziger Sohn den Arm gebrochen und du hast gar keine Hilfe mehr. Was für ein Unglück.“
„Ob es ein Unglück ist“, sagte der Bauer, „oder ein Glück, man weiß es nicht, man weiß es nicht.“Gerade zu dieser Zeit brach ein feindlicher Stamm in das Land ein, und die jungen Männer wurden zusammengerufen, um gegen die Feinde in den Krieg zu ziehen. Alle Nachbarn mussten ihre Söhne schweren Herzens gehen lassen. „Dass sich dein Sohn gerade jetzt den Arm brechen musste“, sagten die Nachbarn nicht ganz ohne Neid. „Jetzt kann er nicht in den Krieg ziehen. Was für ein Glück!“Mit einem kleinen Augenzwinkern wollen uns die alten Fabeln der Tibeter etwas lehren. Diesmal, dass es unser Blickwinkel ist, der über Glück oder Unglück in einer Situation urteilt. Je nach Bewertung können wir auch in vermeintlich schlechten Situationen ein kleines bisschen Glück finden. Wir müssen nur genau hinschauen …
Zum Nach- und Weiterlesen unser Buchtipp:
"Hinter den Schneebergen – Sagenhafte Geschichten aus dem alten Tibet" von Ulli Olvedi.