Das Latifa-Gebet: Finde deinen wahren Kern

Es war über Jahrhunderte hinweg ein geheimes Gebet im Sufismus, bestimmt für Eingeweihte, weil seine Kraft so groß ist. Zugleich ist das Latifa-Gebet sanft und fein. Sieben einfache Affirmationen mit dazugehörigen Bewegungen führen dich zurück zu dir selbst.

Person betet
Hast du bereits vom kraftvollen Latifa-Gebet gehört? Foto: canva.com

Was ist das Latifa-Gebet?

Sich selbst so anzunehmen, wie man ist, mag wohl eine der schwierigsten Heraus­forderungen sein. Stell dir vor, es gibt ein Gebet, das dir dabei helfen kann. Ein Gebet, bei dem du nur deine Hand auf eine Stelle deines Körpers legst und einige Worte aussprichst. Nichts weiter, und dennoch setzt es etwas Wesentliches in dir in Bewegung. Die Latifa ist ein uraltes Gebet aus dem Sufismus; man könnte es auch eine Meditation nennen. Es ist ein Gebet, das uns in unserer Menschlichkeit vereint. Du bringst dabei immer mit deiner linken Hand deine rechte Hand an einen Ort deines Körpers und sprichst die Worte aus, die dazugehören: „Ich existiere. Ich begehre. Ich hoffe …“ Während du ruhig ein- und ausatmest, richtest du auch deine Aufmerksamkeit auf diese Stelle.

Latifa ist subtil mit großer Kraft

Begehren, Hoffen, Loslassen, Lieben – das sind die feinen Aspekte des Menschseins, um die es in der Latifa geht. Daher auch der Name: latif hat verschiedene Bedeutungen, die alle mit „subtil“ zu tun haben. Im Islam ist es einer der 99 Namen Allahs: Al-Latif, der Subtile. Innerhalb der Sufi-Tradition wird latif auch verwendet, um die Atmung zu beschreiben. Dein Atem ist kasif, wenn er laut, mühevoll und an­gespannt ist, der Atem, der bei schwerer körperlicher Anstrengung gehört wird. Latif ist eine leichte Atmung, die du benutzt, um zu deinem Inneren, deinem Kern vorzudringen. Schließlich sind die Latifas die Stellen in deinem Körper, an denen sich die subtilen menschlichen Eigenschaften befinden. So ist dein Herz der Ort der Liebe, aber auch andere menschliche Aspekte sind mit deinem Körper verbunden. In deiner rechten Seite: das Begehren. Auf deiner linken Brust: die Hoffnung.

Hände Meditation
Das Latifa-Gebet kann dir beim Meditieren helfen. Foto: canva.com

Latifa: Bedeutung und Geschichte

Die Theorie der Latifas wurde bereits im 13. Jahrhundert vom sufischen Mystiker ¢Alā‘ ad-Daula as-Simnānī beschrieben, doch das Gebet selbst ist wahrscheinlich noch viel älter. Es wurde mündlich in der Sufi-Tradition überliefert und steht im Einklang mit dem Kern anderer Glaubensrichtungen und Religionen. Glaube, Hoffnung, Liebe – es gibt nicht nur Geschichten aus dem Koran, die dies illustrieren, sondern auch aus der Bibel und anderen heiligen Schriften. Letztendlich geht es in der Latifa um den Kern des Menschseins, es dreht sich um das, was man „Lebensenergie“ nennen könnte. Das klingt tief und mächtig, und manchmal ist es das auch, aber gleich­zeitig ist dieses Gebet sehr zugänglich, weil die Schritte so klar beschrieben sind. Das macht die Latifa zu einem wunder­baren Instrument für Menschen, die das Gefühl haben, sie seien eigentlich nicht gut darin, still zu werden, zu meditieren.

Mit der Latifa zur Ruhe kommen

Du spürst die Energie fließen  Hast du Schwierigkeiten, stillzusitzen, und wirst ungeduldig, wenn du deinen Kopf leeren willst? Dann fühlst du dich bei der Latifa vielleicht wohler. Die Schritte des Gebets sind nämlich – buchstäblich! – greifbar und es hilft, etwas Konkretes zu haben, worauf man seine Aufmerksamkeit richten kann. „Ich existiere. Ich begehre. Ich hoffe.“ Indem du es aussprichst, bestätigst du gewissermaßen dein eigenes Dasein, deine Wünsche, deine Hoffnungen, deine Menschlichkeit. Das gibt Kraft, und zugleich steckt eine unglaubliche Sanftheit und Zartheit in diesem Gebet. Es ist, als würdest du deine Hände schützend um einen Vogel legen, ihn sanft ansprechen und ihm dann die Freiheit schenken. Ein Gefühl des Mitgefühls entsteht: Du existierst, du darfst sein, mit all deiner Verwirrung und deinen Wünschen und Hoffnungen. Es ist gut. Und oft wirst du merken, dass etwas zu fließen beginnt. Das können Tränen sein. Es kann Energie sein. Du könntest es Liebe nennen. Und vielleicht ist dies noch das Schönste: Obwohl jeder Satz der Latifa mit „Ich“ beginnt, erkennst du gerade durch das Aussprechen einfacher Worte wie „Ich hoffe“ oder „Ich begehre“, dass du nicht allein bist. Die Tatsache, dass wir da sind, dass wir begehren, hoffen, vertrauen und loslassen, dass wir lieben und geliebt werden wollen und es nötig haben, ab und zu zurückzukehren zu dem Kern, um den alles kreist. Das ist es, was wir miteinander teilen. Das ist es, was uns zu Menschen macht und was uns alle miteinander verbindet. 

Person meditiert vor Fenster
Das Latifa-Gebet besteht aus 7 Teilen. Foto: canva.com

Die 7 Schritte des Latifa-Gebets

1. Ich existiere

Bewegung: Beim ersten Schritt des Latifa-Gebets nimmst du deine rechte Hand mit der linken und legst sie an deine linke Seite.

Affirmation: Du sprichst die erste Zeile aus: „Ich existiere“.

Dieses „Ich existiere“ ist die Grundlage von allem. Es gab Zeiten, da warst du nicht; es wird eine Zeit geben, in der du nicht mehr sein wirst. Aber jetzt, in diesem Moment, existierst du. Du akzeptierst das Leben. Ist das nicht ein Wunder? Deine Stimme. Dein Körper. Der Raum, den du einnimmst – ja, es gibt Raum für dich. Niemand sonst kann diese Worte für dich aussprechen, nur du. Bei manchen Menschen fließen bei dieser ersten Affirmation sofort Tränen, vielleicht weil so viel Mit­gefühl darin steckt. Das ist es. Hier bist du. Ein Mensch, mit allem Drum und Dran. Mit allen Unzulänglichkeiten, allen Unterschieden zwischen Traum und Tat. Wie kannst du sicher sein, dass du existierst? Der Philosoph Descartes sagte in seinen Meditationen: „Ich denke, also bin ich“ – aber es geht hier nicht nur ums Denken, du bekommst auch eine körperliche Bestätigung. Fühle es, du träumst nicht. Du hörst dich selbst. Du fühlst dich selbst. Du riechst dich selbst. Akzeptiere das Leben. Du brauchst nur dich selbst, um es zu bestätigen: Ich existiere.

2. Ich verlange

Bewegung: Jetzt nimmst du mit der linken Hand deine rechte Hand und bringst sie zu deiner rechten Seite.

Affirmation: Und du sagst: „Ich verlange“.

Verlangen klingt fast wie Ver­längern – und ist nicht das, was du tust? Dich selbst durch die Verbindung mit etwas, das nicht existiert, verlängern? Indem du verlangst, richtest du deine Aufmerksamkeit auf Dinge außerhalb von dir, auf Ereignisse in der Zukunft oder Vergangenheit, du streckst dich nach etwas aus, das nicht da ist. Was verlangst du? Jetzt, in diesem Moment? Vielleicht ist es etwas ganz anderes, als du dachtest. Vielleicht dachtest du, du hättest all diese außergewöhnlichen Wünsche, und was dir einfällt, ist: eine Tasse Tee. Vielleicht verlangst du nach Liebe. Nach jemandem, der nicht mehr da ist – der vielleicht schon lange nicht mehr da ist. Nach einem gesunden Körper. Mehr Zeit. Dem Geräusch eines schnarchenden Igels auf YouTube. Vielleicht verlangst du nach Dingen, die nicht realistisch sind, oder nach etwas, das zu verlangen du dir selbst nicht erlauben darfst, oder nach etwas, das immer hinter dem Horizont verschwindet. Aber Verlangen selbst ist menschlich. Du verlangst nach Essen, einem sicheren Zuhause, nach Luft, nach Liebe. Es kann sein. Es ist alles erlaubt.

3. Ich hoffe

Bewegung: Mit deiner linken Hand bringst du deine rechte Hand schräg über deine Brust zu deiner linken Lunge und linken Brust. Das ist der Ort der Hoffnung.

Affirmation: Sage laut „Ich hoffe“.

Es ist der dritte Schritt im Latifa-Gebet, und vielleicht der komplizierteste. Denn Hoffnung ist wie ein Bergsee. Du sitzt, regungslos, und hoffst – auf etwas, auf jemanden, auf ein Ereignis. Hoffnung ist zweischneidig. Sie enthält Unsicherheit. Du hoffst, dass alles gut wird, aber sicher kannst du dir nicht sein. Du neigst dazu, deine Fäuste zu ballen, du hoffst es so sehr! Hoffen macht verletzlich. Du hast es nicht in der Hand? Hoffen macht unruhig. Solltest du dann nicht etwas tun? Nein, manchmal nicht. Du verlangst etwas, du hoffst, dass es zu dir kommt, aber du weißt nicht, ob das passiert. Hoffen ist Hingabe und Akzeptanz dessen, dass du nicht alles in der Hand hast. Hoffen bedeutet: Es ist möglich. Hoffen ist das Schaffen eines Raumes, in dem Dinge geschehen können. Atme ruhig ein. Atme langsam aus. Schaffe Raum. Und warte. Bis du erfüllt bist von Hoffnung.

Person mit Händen an Brust
Das Latifa-Gebet wird durch bestimmte Handbewegungen ergänzt. Foto: canva.com

4. Ich glaube und vertraue

Bewegung: Mit deiner linken Hand bringst du nun deine rechte Hand zu deiner rechten Lunge und deiner rechten Brust. Das ist der Ort, wo Glaube und (Selbst-)Vertrauen sind.

Affirmation: „Ich glaube und vertraue“, sagst du laut.

Der Schritt von Hoffen zu Vertrauen ist der von Unsicherheit zu Sicherheit. Wenn du glaubst und auf etwas vertraust, legst du dich in die Hände von etwas oder jemandem. Das kannst übrigens auch du selbst sein. Glaube an dich selbst. Vertraue auf das, wer du bist und was du kannst. Dein Glaube verbindet dich mit der spirituellen Welt, aber auch zutiefst mit dir selbst. Und vielleicht sind diese beiden dasselbe. Glaube und Vertrauen bringen alle „Ja, aber“-Gedanken zum Schweigen. Sie beruhigen, sie trösten. In tiefem Vertrauen: Es wird gut.

5. Ich lasse los

Bewegung: Jetzt bringst du mit deiner linken Hand deine rechte Hand an deinen Hals.

Affirmation: Sprich die Worte aus: „Ich lasse los.“

Dein Hals ist der Ort, an dem du Dinge aufstaut, wo deine Emotionen sitzen, wo du Dinge hinunterschlucken musst. Hier spürst du Beklemmungen, hier fühlen sich Dinge erstickend an. Äußerlich kannst du vieles verbergen, aber ein:e aufmerksame:r Zuhörer:in hört an deiner Stimme, dass etwas nicht stimmt. Das Schöne am Latifa-Gebet ist, wie die Schritte aufeinanderfolgen und sich ergänzen. Wenn du glaubst und vertraust, dann kannst du auch loslassen. Ob es sich um eine Idee, ein Ideal, einen Wunsch oder einen Menschen handelt. Loslassen bedeutet nicht, dass du dich von etwas trennst. Loslassen bedeutet, dass du ihm die Freiheit gibst. Du tust dies aus Vertrauen. Aber loslassen bedeutet auch, dich selbst freizusetzen, dir selbst Raum zu geben. Es kann gut sein, dass du nach den vorherigen Schritten der Latifa jetzt wirklich einen Kloß im Hals spürst. Lass es zu. Hab Vertrauen. Wenn du loslässt, was dich belastet, findest du deine Stimme wieder. Wenn du loslässt, kannst du wieder frei atmen. Du hast die Gewissheit deiner Existenz, deiner Wünsche, deiner Hoffnung und deines Vertrauens. Jetzt kannst du loslassen.

Herzwolke mit Flügeln
Ein Herz mit Flügeln ist ein wichtiges Zeichen des Sufismus. Foto: canva.com

6. Ich liebe

Bewegung: Mit deiner linken Hand bringst du deine rechte Hand zu deinem Herzen, mitten auf deiner Brust.

Affirmation: Sprich die Worte „Ich liebe“ aus.

Das Symbol der Sufi-Bewegung ist ein Herz mit Flügeln. Es steht für das Ideal: Liebe ist ein göttlicher Funke im Herzen, und es ist wichtig, diesen Funken anzufachen, damit eine Flamme entsteht, die den Lebensweg erhellt. Das schrieb Hazrat Inayat Khan, der Mystiker, der den Sufismus im Westen einführte. Deine Hand bewegt sich von deiner Stimme zu deinem Herzen. Lass eine Verbindung entstehen, lass dein Herz sprechen. Es gibt so viel zu lieben! Dich selbst, die Menschen um dich herum, die Welt. Wie schön, dass „Ich liebe“ auf „Ich lasse los“ folgt! Zu lieben, was du freigesetzt hast, ist die ultimative Form der Liebe. Dein Bild von dir selbst loslassen. Und dann dich selbst lieben, für das, was du bist.

7. Ich bin bereit

Bewegung: Beim letzten Schritt des Latifa-Gebets legst du mit deiner linken Hand deine rechte Hand knapp über deinen Nabel, dann formst du mit deinen Händen eine Schale.

Affirmation: Du sagst: „Ich bin bereit.“

Ursprünglich ist dies der Ort des Willens. Des Menschen, der den Mut hat zu sagen: „Ich will – das ist es, was ich wirklich will.“ Daraus folgt diese Bereitschaft. Es ist die Bereitschaft, zu empfangen, aber auch zu geben. Bereitschaft, zu tun, was nötig ist. Das Leben anzunehmen und bereit zu sein, es so zu leben, wie es sich dir darbietet. Die Bereitschaft, das Leben (und die Liebe!) durch dich fließen zu lassen. Mit dem Strom zu schwimmen, manchmal gegen den Strom anzukämpfen, es einfach zu tun. Warum? Einfach, weil es dein Leben ist. Und vielleicht auch aus Dankbarkeit, weil du existierst.

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